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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

Mal grundsätzlich unterscheidende Ethik. Eine ihrer Wirkungen war, dass im 16.<br />

und 17. Jahrhundert die stoischen Begriffe prudentia und sapientia, verstanden <strong>als</strong><br />

Staatsräson und <strong>als</strong> vernünftige Lebensführung, eng mit Seneca und Tacitus ver-<br />

bunden blieben. 38 Allerdings wurden die antiken Normen allmählich so ›umbe-<br />

setzt‹, dass sie das Bedürfnis der frühneuzeitlichen Eliten nach einer handlungso-<br />

rientierenden Ethik erfüllten. 39 In allen europäischen Ländern belegen zahlreiche<br />

Traktate das Interesse für die zentralen Themen der neustoischen Philosophie. In<br />

Frankreich ist vor allem Guillaume du Vair (1556-1621) 40 zu nennen, dessen<br />

Werkausgaben in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts elf Auflagen erlebten. 41 In<br />

Deutschland sind besonders Kaspar Schoppe (1576-1649) 42 , in Spanien Francisco<br />

de Quevedo (1580-1645) 43 und in England Thomas Gataker (1574-1654) 44 hervor-<br />

zuheben.<br />

[Affektkontrolle] Der Neustoizismus bot dem Einzelnen im durch religiöse und politi-<br />

sche Auseinandersetzungen geprägten frühneuzeitlichen Europa eine intellektuelle<br />

Möglichkeit, den Konflikten der Konfessionsstreitigkeiten zu entgehen, auch wenn<br />

er nicht wie Lipsius mehrfach emigrieren musste:<br />

Itaque non patria fugienda, Lipsi, sed adfectus sunt, et firmandus ita formandusque<br />

hic animus, ut quies nobis in turbis sit et pax inter media arma. 45<br />

<strong>Die</strong> von den Neustoikern propagierte Affektkontrolle gilt nicht zu Unrecht <strong>als</strong> Vor-<br />

aussetzung der entstehenden höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. 46 Den<br />

Zwängen der von den Religionsstreitigkeiten geprägten frühmodernen Gesellschaf-<br />

38<br />

»Licebit in hoc σεμνύνεσθαι, quod duos optimos auctores protraxerim et lucem dederim Tacito et Senecae,<br />

illi ad p r u d e n t i a m , huic ad s a p i e n t i a m duci?« (›ich darf mich rühmen, zwei vorzügliche Schriftsteller<br />

wieder entdeckt und ans Licht gebracht zu haben, nämlich Tacitus und Seneca, ersteren <strong>als</strong> Führer zur politischen<br />

Klugheit, letzteren <strong>als</strong> Führer zur Weisheit.‹) Aus einem Brief an die Brüder Guilielmus und Antonius<br />

Richardotus; Opera omnia, a.a.O., Bd. 2,2, S. 902)<br />

39<br />

Richard Tuck hat die philosophisch-politischen Entwicklungslinien von Lipsius und Montaigne über Hugo<br />

Grotius, Thomas Hobbes zu Kant nachgezeichnet (Tuck, Richard: Philosophy and Government 1572-1651,<br />

Cambridge 1993).<br />

40<br />

Philosophie morale des Stoiques (1599) und Traité de la constance et consolations ès calamitéz publiques<br />

(1595).<br />

41<br />

Seine Wendung zum Stoizismus (La Philosophie morale des stoïques [1599]) ist durch die Erfahrungen der<br />

Religionskriege veranlasst. Noch seine Philosophie saincte (1588) ist stoisch beeinflusst, obwohl er sie bereits<br />

<strong>als</strong> Bischof schrieb. Vgl. Oestreich, a.a.O., S. 94-94.<br />

42<br />

Elementa philosophiae stoicae moralis (1606).<br />

43<br />

La cuna y la sepultura para el conocimiento proprio y desengano des las cosas ajenas (1634) und Nombre,<br />

origen, intento, recomendación y descendencia de la doctrina estoica (1635).<br />

44<br />

De disciplina stoica (1652).<br />

45<br />

›Deshalb darf man nicht die Emigration <strong>als</strong> Ausweg wählen [...], sondern muss die Affekte unter Kontrolle<br />

halten. Und diese Einstellung sollte so stark ausgebildet werden, dass für uns mitten im Kriegsgetümmel Ruhe<br />

und mitten unter den Waffen Frieden herrscht.‹ (De constantia I,1)<br />

46<br />

Norbert Elias hat in seiner soziogenetischen Untersuchung Über den Prozeß der Zivilisation (2 Bde, Frankfurt/Main<br />

1 1976, besonders Bd. 2, S. 312-341) die zunehmende Steuerung der Affekte und die daraus resultierende<br />

Transformation von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen untersucht.<br />

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