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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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IX Von der vertu zum Affekt<br />

den Sommermonaten auf dem Lande und bot jungen Damen die Gelegenheit, spielerisch<br />

anmutiges Verhalten und graziöse Posen zu erlernen. 103<br />

Gerade in Frankreich unterschieden sich Attitüden nicht immer scharf von der Inszenierung<br />

›lebender Bilder‹, für die sich verschiedene Vorläuferformen nachweisen<br />

lassen. 104 Doch finden sich Unterscheidungsmerkmale schon in den Frühformen:<br />

Tableaux vivants sind an eine Bühne gebunden, auf der meist mehrere Personen<br />

ein wirklich vorhandenes oder auch nur gedachtes Gemälde nachstellen. <strong>Die</strong><br />

meist mythologischen oder historischen Themen verdanken sich der Historienmalerei;<br />

später finden sich auch Motive aus dem Genre. <strong>Die</strong> Mitspielenden, die eigentlich<br />

Mitstellende genannt werden müssten, arrangierten sich hinter einem Vorhang.<br />

Wurde dieser geöffnet, war absolute Bewegungslosigkeit oberstes Gebot, da dem<br />

Publikum für ein oder zwei Minuten die Illusion eines Gemäldes geboten werden<br />

sollte. 105<br />

Attitüden teilen mit dem ›lebenden Bild‹ die Bewegungslosigkeit. Ohne Bühne und<br />

Vorhang wurden sie vor den Augen aller aus der Bewegung heraus entwickelt,<br />

wenn eine Künstlerin die Hauptperson eines realen oder fiktiven Gemäldes oder eine<br />

antike Statue nachstellte. Sorgfalt wurde auf Beleuchtung und einen meist dunklen<br />

Hintergrund gelegt. <strong>Die</strong> eingenommene Pose hielt <strong>als</strong> zum Zitat verdichtete Abbreviation<br />

den dramatischen Moment einer Entscheidungssituation fest: Handlung<br />

und Katharsis gehen in einem sprachlosen, Transitorisches festhaltenden Moment<br />

ineinander über. 106<br />

<strong>Die</strong>se eigenartige Form der Antikenrezeption setzte einen Bildungsfundus voraus,<br />

über den nur die europäische Oberschicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts verfügte,<br />

die im Grand Tour 107 die Originale, aber auch museale Inszenierungen kennengelernt<br />

hatte, die dem sich auf Bildungsreise befindenden Publikum durch Illuminationen<br />

und andere Inszenierungsformen einen neuen Zugang zu den antiken<br />

Werken verschaffen wollten. 108 Das imaginierende Betrachten antiker Skulpturen<br />

setzte auf die Einbildungskraft des Betrachters und ließ die antiken Statuen ›belebt‹,<br />

›atmend‹ oder ›lebendig‹ erfahren; der Betrachter meditierte sich sozusagen<br />

in die Rolle des Pygmalion hinein. I l l u m i n a t i o n e n , von denen auch Goethe in<br />

der Italienischen Reise berichtet, ›verlebendigten‹ Skulpturen. Der nächtliche Besuch<br />

eines Antikensa<strong>als</strong> bei Fackelbeleuchtung konnte durch Licht- und Schattenspiel<br />

reale Körperlichkeit vortäuschen. 109<br />

103 Vgl. dazu vor allem Birgit Jooss, a.a.O., S. 93-97.<br />

104 Zwei neuere Untersuchungen arbeiten auch die ältere Forschungsliteratur auf: Ittershagen, Ulrike: Lady<br />

Hamiltons Attitüden, Mainz 1999 und Jooss, Birgit: Lebende Bilder, Körperliche Nachahmung von Kunstwerken<br />

in der Goethezeit, Berlin 1999; vgl. außerdem Egger, Irmgard: »Eikones: zur Inszenierung der Bilder in<br />

Goethes Romanen« in: Goethe-Jahrbuch 2001, Weimar 2002, S. 260-273.<br />

105 Vgl. Jooss, a.a.O., S. 94 und den sehr materialreichen Aufsatz von Langen, <strong>August</strong>: »Attitüde und Tableau<br />

in der Goethezeit«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 194-258.<br />

106 »Mme. De Genlis aimait à offrir le spectacle de Paméla dans une attitude théâtrale à tout moment, dans un<br />

salon, une promenade ou en visite. Elle disait ainsi: ›Paméla, faites Héloïse!‹ Paméla enlevait alors son<br />

peigne. Ses longs cheveux tombaient en lourdes boucles sur ses reins. Elle se précipitait un genou en terre, le<br />

dos courbé, un bras levé, les yeux portés au ciel, figée dans une extase passionnée. On comprend que tous<br />

ceux qui assistèrent à ce tableau vivant improvisé en reçurent une impression profonde!« Zitiert nach Jooss,<br />

a.a.O., S. 95.<br />

107 Vgl. Wilton, Andrew / Bignamini, Ilaria (Hrsg.): AK Grand Tour, The Lure of Italy in the Eighteenth Century,<br />

London 1996; Allen, Brian: »<strong>Die</strong> Grand Tour der Briten, Künstler und Reisende in Rom in der Mitte des 18.<br />

Jahrhunderts«, in Baumgärtel, Bettina (Hrsg.): AK Angelika Kauffmann, Ostfildern-Ruit 1998, S. 47-51.<br />

108 Vgl. <strong>Die</strong>rs, Michael: »(Nach-)Lebende Bilder. Praxisformen klassizistischer Kunsttheorie«, in: Burdorf, <strong>Die</strong>ter<br />

/ Schweickard, Wolfgang (Hrsg.): <strong>Die</strong> schöne Verwirrung der Phantasie, Tübingen 1998, S. 175-205.<br />

109 Ein interessantes Beispiel dokumentiert Karl <strong>August</strong> Böttigers 1808 veröffentlichter Aufsatz »<strong>Die</strong> Dresdner<br />

Antikengalerie bei Fackelbeleuchtung gesehen« (Angaben bei Langen, a.a.O., S. 208). Auch Louise Seidler<br />

berichtet aus der Zeit ihres Romaufenthalts (1818-1823) von einer für die romantische Freundes- und Künstlergruppe<br />

veranstalteten Illumination und ihrem nachhaltigen Eindruck: »Unbeschreiblich war der Eindruck, <strong>als</strong><br />

einst Herr von Quandt nächtlicher Weile die unübersehbare Galerie der plastischen Bildwerke [im Vatikan]<br />

durch Fackeln beleuchten ließ. <strong>Die</strong> Statuen schienen Leben zu athmen, so frappant wirkte die düsterrothe<br />

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