21.06.2013 Aufrufe

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

das eklektische Verfahren Ciceros und sein Interesse an praktischer Philosophie<br />

ins Bewusstsein. Als in der veränderten politischen Landschaft der oberitalienischen<br />

Stadtstaaten im 13. Jahrhundert auch der Politiker Cicero 11 ins Blickfeld geriet,<br />

deuten sich bereits wichtige Veränderungen im Rezeptionshorizont an: die Politiker<br />

der römischen Republik wurden jetzt <strong>als</strong> Modelle für das politische Handeln<br />

der eigenen Zeit entdeckt und die antiken Texte auf anthropologische Muster hin<br />

gelesen. Formal waren zwar Sprache und Rhetorik durch den Einfluss der römischen<br />

Kurie schon längst ciceronianisch geprägt, doch werden nun darüber hinaus<br />

ontologische Fragestellungen, wie sie noch die Scholastik beherrschten, durch<br />

anthropologische abgelöst und Bildung und Erziehung zum Programm des Humanismus.<br />

12<br />

Gleichzeitig suchten urbane Gesellschaftsschichten, die im Gegensatz zum<br />

Schwertadel nicht auf Ahnenreihen zurückblicken konnten, in der römischen Republik<br />

Vorbilder, die die neuen Führungseliten legitimieren konnten: Sie fanden in<br />

den exempla der republikanischen Phase Roms ihre Maßstäbe moralischen Handelns.<br />

<strong>Die</strong>ses Interesse für Modelle aus der römischen Republik wurde erst spät auf<br />

die nachrepublikanische Epoche erweitert. <strong>Die</strong> politischen Krisen des ausgehenden<br />

Mittelalters – Schisma, Hundertjähriger Krieg, Niedergang des Kaisertums, Territori<strong>als</strong>treitigkeiten,<br />

Türkengefahr, Hungersnöte und Pest – veranlassten die Humanisten,<br />

auch andere Epochen der römischen Geschichte zum Vergleich mit den eigenen<br />

Zeitläuften heranzuziehen und die zuversichtliche Welt- und Menschensicht zu<br />

relativieren. <strong>Die</strong> stoisch geprägten kaiserzeitlichen Autoren rückten nun ins Zentrum<br />

des Interesses.<br />

Zunächst wurden Senecas Epistulae morales ad Lucilium und seine Traktate<br />

De clementia und De tranquilitate animi unter anderen Vorzeichen 13 gelesen. Im<br />

Zeitalter der Konfessionsstreitigkeiten ließ sich in den moralphilosophischen Schriften<br />

Senecas ein Ausweg finden, der einen neuen Subjektivismus jenseits der Konfessionsstreitigkeiten<br />

14 zuließ. <strong>Die</strong>se Tendenz verband sich mit dem steigenden<br />

Interesse, das Senecas Dramen <strong>als</strong> Vorbilder für das sich langsam entwickelnde<br />

frühneuzeitliche Theater gefunden hatten. Lovato Lovati und Albertino Mussato,<br />

einflussreiche Vertreter des Paduaner Frühhumanismus, hatten schon um 1300 die<br />

wiedergefundenen Tragödien Senecas 15 bekannt gemacht und eine Renaissance<br />

seiner Theaterkunst eingeleitet. 16 Mit seinem Tractatus super tragediis componen-<br />

zugestanden. Deswegen wurden im Gegensatz zu den Briefen und philosophischen Abhandlungen alle rhetorischen<br />

Schriften Ciceros im Mittelalter breit überliefert und im universitären Grundstudium der artes liberales<br />

verwendet.<br />

11<br />

Noch Petrarca (Fam. 24,3.4) war 1345 tief enttäuscht, <strong>als</strong> das Bild Ciceros nach der Entdeckung der Briefe<br />

an Atticus um seine philosophische Neigung zur vita contemplativa erweitert werden musste. Schon zwei Generationen<br />

später konnte Salutati (1392) nach der Entdeckung der zweiten Briefsammlung (Epistulae ad familiares)<br />

in seinem Cicero-Bild neben dem Staatsmann, Politiker und Philosophen auch den Privatmann mit<br />

seinen Stärken und Schwächen zulassen.<br />

12<br />

Eine sodalitas aller Humanisten und eine sancta societas eruditorum (Erasmus) sollte entstehen, für die die<br />

literarischen Textformen des Briefs und des Dialogs Kennzeichen intellektueller Kommunikation wurden. <strong>Die</strong><br />

europäische sodalitas bedient sich weiterhin der eingeführten Sprech- und Schreibformen des Briefs, des<br />

Dialogs und des Traktats. <strong>Die</strong>se scheinbare Kontinuität verstellt dem heutigen Leser oft den Blick darauf, dass<br />

die Inhalte allmählich wechselten. Vgl. dazu Muller Jeffrey M.: »Rubens’s Collection in History«, in: AK A House<br />

of Art, Rubens as Collector (Belkin Lohse, Kristin / Healy, Fiona Hrsg.) Antwerpen 2004, S. 10-85, bes. S.<br />

40.<br />

13<br />

Dazu auch Etter, Else-Lilly: Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Basel/Stuttgart<br />

1966, hier S. 13. – Senecas moralphilosophische Schriften waren während des ganzen Mittelalters unter<br />

christlichen Vorzeichen gelesen worden; der um 375 fingierte Briefwechsel Senecas mit seinem Zeitgenossen<br />

Paulus zeigt, dass Seneca schon in der Spätantike <strong>als</strong> Christ oder doch zumindest <strong>als</strong> dem Christentum nahestehend<br />

eingeordnet wurde. Mit dem Urteil Seneca saepe noster drückte Tertullian (De anima 20,1) die<br />

moralische Nähe zum Christentum aus, Hieronymus (De viris illustribus 12) nahm ihn sogar <strong>als</strong> einzigen heidnischen<br />

Autor in seinen christlichen Schriftstellerkatalog auf.<br />

14<br />

Grundlegend immer noch Burdach, Konrad: Reformation, Renaissance, Humanismus, Berlin 1918.<br />

15<br />

Aus dem Codex Etruscus der Abtei Pomposa.<br />

16<br />

Dazu noch immer gültig der Aufsatz von Regenbogen, Otto: »Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas«,<br />

in: Vorträge der Bibliothek Warburg 7 (1927/28), S. 167ff. (ND Darmstadt 1963).<br />

180

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!