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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VII Posttridentinische Märtyrer und stoische Tugendhelden<br />

Einleuchtender ist der Verweis auf den sich in vielen Bereichen der Frühen<br />

Neuzeit manifestierenden Konflikt zwischen dem sich langsam konturierenden In-<br />

dividuum und dem entstehenden absoluten Staat, der dem einzelnen Bürger Unte-<br />

rordnung abverlangte. 107 Auf dieser Abstraktionsebene lässt sich die Ikonographie<br />

der posttridentinischen Märtyrer mit der Ikonographie der profanen stoischen Tu-<br />

gendhelden eng verknüpfen, auch wenn das ›schöne Sterben‹ der Märtyrer und<br />

der Tugendhelden entschieden verschiedene Akzentuierungen der moralischen<br />

Selbstbehauptung des Individuums ins Bild setzte. Der allzu missbräuchlich ver-<br />

wendete und vorschnell verallgemeinerte Begriff des exemplum virtutis 108 lässt sich<br />

hier im Sinne der moralischen Selbstbehauptung deuten. Bekunden Heilige Erge-<br />

bung ins Martyrium und Sterben, beweisen Tugendhelden Willensstärke und ak-<br />

zeptieren das fatum, wie es die stoische Philosophie verlangte.<br />

Ob freilich die Protagonisten barocker Märtyrerdramen, die Tugendhelden<br />

der Historiengemälde, die Märtyrer der kirchlichen Kunst und die fast automatisier-<br />

te rhetorische Referenz auf die Antike im politischen Diskurs der Frühen Neuzeit in<br />

gleicher Weise, abgesehen von ihrer abstrakten Funktion <strong>als</strong> exempla virtutis, hin-<br />

reichend gedeutet sind, ist eine andere Frage. Dichter, Künstler und Redner setz-<br />

ten nämlich auf den überraschenden Transfer, die teilweise Umbesetzung vertrau-<br />

ter Inhalte des kulturellen Gedächtnisses, entwickelten neue Applikationen schein-<br />

bar unveränderlicher Verhaltensnormen und deuteten kollektive Normen und Wer-<br />

te um. ›Christliches‹ und ›philosophisches‹ Sterben konnte so unter heroischen<br />

Vorzeichen ikonographisch kompatibel werden. Vergleichbares gilt für die Ikonog-<br />

raphie der vor allem von Domenico Fetti variierten Meditationsbilder, die vanitas-<br />

Motive und Varianten des memento mori in religiösen und profanen Kontexten ab-<br />

wandeln. 109<br />

Christliche und neustoische Andachts- und Meditationsbilder stellen hero-<br />

ische Tugend dar, greifen dabei auf gemeinsame anthropologische Voraussetzun-<br />

gen zurück und verwenden vergleichbare Bildformeln des Heroischen und des<br />

107 So die These von Held, Jutta: Caravaggio, Politik und Martyrium der Körper, Berlin 1996: »Das Martyrium,<br />

die Kulmination eines heiligmäßigen Lebens, muss zu allererst <strong>als</strong> eine Chiffre erkannt werden, die den kirchen-<br />

und staatspolitischen Strategien zur Anrufung der Individuen mit dem Ziel ihrer Unterwerfung diente und<br />

erst sekundär Effekte der Verunsicherung, des ›Pessimismus‹ und vor allem der Leidensbereitschaft erzeugte<br />

und erzeugen sollte.« (S. 215) Held verkennt allerdings, dass sich die Dialektik von entstehendem Individuum<br />

und entstehendem Staat in der Frühen Neuzeit gegenseitig bedingt. Nicht nur in der Ikonographie, sondern<br />

auch im Grundkonflikt des klassizistischen Dramas, aber auch in der Staatstheorie lässt sich diese Fragestellung<br />

nachvollziehen. Deshalb übersieht Jutta Held den Aspekt der Selbstbehauptung, der posttridentinische<br />

Märtyrer mit Corneilleschen Helden verbindet.<br />

108 Vgl. unten S.302.<br />

109 Vgl. S. 218.<br />

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