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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

Standhaftigkeit (constantia) 55 wird so zur wichtigsten Leistung (›Tugend‹), die das<br />

entstehende Individuum charakterisiert: sie steht für geradlinige Lebensführung,<br />

Ruhe und Festigkeit in der Verfolgung des Lebensentwurfs, Besonnenheit in der<br />

Affektabwehr, beharrliches Verfolgen von Zielen, konsequentes Verhalten und<br />

Charakterfestigkeit. <strong>Die</strong> Leittugend der constantia unterstützt das Individuum im<br />

nicht endenden Kampf gegen die vier Hauptaffekte cupiditas, gaudium, metus und<br />

dolor (Begierde, Freude, Furcht, Schmerz) und hilft dem Bürger Kriege und Katast-<br />

rophen (bellum, pestis, fames, tyrannis und caedes) zu ertragen. Eine bemerkens-<br />

werte Leistung des Neustoizismus, die seinen Erfolg in der Frühen Neuzeit erklä-<br />

ren mag, war die Umbesetzung spätantiker Begriffe (etwa der ›Tugenden‹ und<br />

›Laster‹): verteidigten sie ursprünglich die moralische Autonomie des Philosophen<br />

gegenüber dem kaiserzeitlichen Ausschließlichkeitsanspruch des Staates, werden<br />

sie im beginnenden Konfessionszeitalter zu einer ersten Möglichkeit, gegenüber<br />

den entstehenden, moralische Ausschließlichkeit beanspruchenden modernen<br />

Staaten die Rechte des Individuums zu formulieren. Gleichzeitig definieren sie das<br />

Selbstbewusstsein der sich allmählich formierenden Funktionseliten der entste-<br />

henden modernen Staaten. In beiden Besetzungen werden die ›Tugendkataloge‹<br />

in Literatur und bildender Kunst übernommen.<br />

[Lipsius und der Selbstmord] Für die Fragestellung dieser Untersuchung ist vor allem<br />

von Gewicht, dass die vom Neustoizismus propagierte Stärkung der Identität des<br />

Individuums zu einer differenzierten Beurteilung des moralisch begründeten<br />

Selbstmords führte, die sich auch in der frühneuzeitlichen Ikonographie des Philo-<br />

sophentods und der profanen <strong>Tugendheldin</strong>nen wiederfindet. <strong>Die</strong>ser Aspekt des<br />

Neustoizismus dürfte geradezu eine Voraussetzung des ikonographischen Motivs<br />

der <strong>Tugendheldin</strong> sein.<br />

Lipsius selbst scheint sich in der in seinen Leidener Jahren erarbeiteten<br />

Schrift Thrasea sive de mortis contemptu ausführlich zum Selbstmord geäußert zu<br />

haben, wagte es allerdings nicht, die Abhandlung zu veröffentlichen. 56 Gleichwohl<br />

55 »[...] constantiam hic appello, rectum et immotum animi robur, non elati externis aut fortuitis, non depressi«<br />

(›Ich begreife Standhaftigkeit <strong>als</strong> einsichtige und unerschütterliche innere Kraft, die sich von Äußerlichem oder<br />

Zufälligem weder übermütig machen noch niederdrücken lässt.‹) (De constantia I,4)<br />

56 Lipsius weist in einer Randnotiz zu De constantia (II,19) selbst auf die geplante Schrift hin: »Plura nos huius<br />

rei in Thrasea nostro sive De contemptu mortis« (›Mehr zu diesem Thema in meiner Schrift Thrasea oder Über<br />

die Verachtung des Todes‹). Der Index der Gesamtausgabe von 1675 vermerkt, dass der Dialog von Lipsius<br />

zwar geschrieben, aber nicht veröffentlicht wurde (»Thrasea, Dialogus de contemptu mortis, a Lipsio scriptus,<br />

sed ab ipso suppressus«). Dazu Etter, a.a.O.,S. 137.<br />

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