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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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IX Von der vertu zum Affekt<br />

greifen: »si, ma il ferro / che già intrepida stringo.« <strong>Die</strong> dritte, nur den Halbsatz »alla<br />

salma infedel porga la pena« umfassende Arie antizipiert das Ende mit der doppelten<br />

Bedeutung von »salma« <strong>als</strong> ›Körper‹ und <strong>als</strong> ›Leichnam‹. Das letzte Rezitativ<br />

und das Arioso trägt eine gleichsam bereits Tote vor. Das Libretto des Kardin<strong>als</strong><br />

hebt auf identitätsstiftende Affektdarstellung ab, verbindet sie aber mit der politischen<br />

Deutung des Opfergangs der Lukrezia (»presento il mio morir«). <strong>Die</strong> <strong>Tugendheldin</strong><br />

inszeniert ihren Tod <strong>als</strong> Sühne für ein von ihr gar nicht provoziertes<br />

Vergehen, dessen unfreiwilliges Opfer sie wurde. Erinnert man sich daran, dass<br />

Lukrezias ›politischer Selbstmord‹ in der zeitgenössischen Moraltheologie kontrovers<br />

diskutiert wurde und in der Legitimationsdebatte weltlicher Herrschaft eine gewisse<br />

Rolle spielte, ist es weniger verwunderlich, dass das Libretto des Kirchenfürsten<br />

ausgerechnet das Thema des Selbstmords einer profanen <strong>Tugendheldin</strong> aufgriff.<br />

66<br />

So integriert die Kantate in die Affektdarstellung Anspielungen auf einen philosophischen<br />

und politischen Kontext, der noch einmal an den neustoischen Hintergrund<br />

des frühneuzeitlichen Themas der profanen <strong>Tugendheldin</strong> in der Literatur<br />

und bildenden Kunst erinnert. <strong>Die</strong> Affektkonturierung der Kammerkantate verbindet<br />

in intrikater Weise die Darstellung der <strong>Tugendheldin</strong> <strong>als</strong> exemplum ›schönen Sterbens‹<br />

mit einem politischen Diskurs. Gleichwohl gehört die Lukrezia der Kammerkantate<br />

67 ebenso wie die antikisierenden Pathosformeln der Halbfigurenbilder Renis<br />

zu einer Entwicklung, an deren Ende die <strong>Tugendheldin</strong>nen zu enthistorisierten<br />

exempla werden. <strong>Die</strong> Attitüden und ›lebenden Bilder‹ des 19. Jahrhunderts sind<br />

nicht mehr allzu fern.<br />

Femme fatale<br />

Noch in den späten Kantaten des 19.Jahrhunderts haben die profanen <strong>Tugendheldin</strong>nen<br />

offenbar eine gewisse Attraktion ausgeübt. Hector Berlioz reichte 1829 für<br />

den Prix de Rome des Pariser Konservatoriums eine Kantate Cléopâtre ein, die allerdings<br />

abgelehnt wurde. Das Bravourstück führt mit seiner Inszenierung Kleopatras<br />

<strong>als</strong> femme fatale (»Je n'ai pu captiver son farouche regard«) ein Stück weiter in<br />

die Dekadenz des 19. Jahrhunderts und erinnert mit dem Interesse für den orientalischen<br />

Dekor und den sexuellen Konnotationen (»comparable à Vénus«) an das im<br />

Eingang dieser Untersuchung evozierte Gemälde Makarts. 68 Gleichwohl behalten<br />

Berlioz und Vieillard immer noch die historische Reminiszenz und die Funktion des<br />

Selbstmords der <strong>Tugendheldin</strong> zur Wiederherstellung ihrer moralischen Integrität<br />

bei: »Cléopâtre en ... quittant ... la vie, / Redevient digne de ... César!« Noch bleiben<br />

moralischer Diskurs und Affektdarstellung verbunden. 69<br />

66 Dazu Emich, Birgit: »Bologneser libertà, Ferrareser decadenza: Politische Kultur und päpstliche Herrschaft<br />

im Kirchenstaat der Frühen Neuzeit«, in: Asch, Ronald / Feist, Dagmar (Hrsg.): Staatsbildung <strong>als</strong> kultureller<br />

Prozess, Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2005, S.<br />

117-134.<br />

67 Domenico Zipoli (1688-1726), ein Jesuit, hat in seiner Kammerkantate Dell'offese a vendicarmi das gleiche<br />

Thema behandelt (Text in: Händels Italianità, Programme, Texte und Werkeinführungen, [Göttinger Händel-<br />

Gesellschaft] Göttingen 1997, S. 122-123). Eine weitere Kleopatra-Kantate (Cleopatra moribonda) hat Giovanni<br />

Paolo Colonna (1637-1695) komponiert. Dido-Kantaten stammen beispielsweise von Sigismondo d’ India<br />

(1582-1629), Giovanni Paolo Colonna (1637-1695), André Campra (1660-1774), Michel Pignolet de Montéclair<br />

(1667-1737) und François Collin Delamont (1690-1760).<br />

68 Vgl. oben S. 13ff.<br />

69 Der Text der Kantate wurde von der Jury für den Prix de Rome ausgewählt und stammt von Pierre-Ange<br />

Vieillard (Klavierauszug zu der Vertonung von Berlioz: Gilbert, David (Hrsg.): Hector Berlioz, Cléopâtre, o. J.,<br />

Bärenreiter 5787).<br />

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