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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

führung gewinnen: »mori, quod faciendum semel, cogitandum saepe.« 62 Der Tod<br />

ist nicht mehr Anlass zu Umkehr und Buße, die stets zur Verfügung stehende Mög-<br />

lichkeit des Todes ist vielmehr die Garantie individueller Freiheit. Unvermerkt be-<br />

setzt Lipsius so das christliche memento mori um, obwohl die Konsequenzen für<br />

die stoische Lebensführung durchaus christlich akzentuiert werden. Gerade da-<br />

durch verdeckt er seine implizite Billigung des Freitods.<br />

[profane meditatio mortis] Mehrere Abschnitte der Manuductio ad stoicam philoso-<br />

phiam 63 entwickeln unter Rückgriff auf antike Exempel geradezu eine profane me-<br />

ditatio mortis 64 , die christliche und neustoische Gedankengänge so eng verknüpft,<br />

dass die Umbesetzungen zunächst gar nicht auffallen. Dem Zustand vor der Ge-<br />

burt vergleichbar, ist der Tod nichts Schreckliches, obwohl er den Menschen<br />

unaufhörlich beschäftigt. 65 Gilt das Sterben des Sokrates 66 immer wieder <strong>als</strong> vor-<br />

bildlich, beruft sich Lipsius zur philosophischen Begründung vor allem auf Seneca:<br />

Vivere tota vita discendum est, et quod magis fortasse miraberis, tota vita discendum<br />

est mori. Idem alibi: Egregia res est mortem condiscere. Meditare mortem: qui<br />

hoc dicit, meditari libertatem iubet. 67<br />

Auf den ersten Blick stellt Lipsius ganz im Sinn der christlichen Tradition die medi-<br />

tatio mortis in den Mittelpunkt, wobei er allerdings die Leitbilder dieser Lebensfüh-<br />

rung in der vorchristlichen Antike sucht und damit das christliche memento mori<br />

unterläuft. <strong>Die</strong>se vorsichtige Sprachregelung erlaubt eine implizite Umbesetzung<br />

des Verhältnisses zum Tod und die Erweiterung des Freiraums individueller<br />

Selbstbestimmung bis hin zum Selbstmord, wie sie bereits der Titel der Abhand-<br />

erwarte ihn deshalb überall. <strong>Die</strong> Philosophie aber wird dich, wie erwähnt, zu ihm führen und dir mit diesen<br />

Überlegungen Stärke verleihen.‹) Physiologiae stoicorum II,1 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 895f.<br />

62 Physiologiae stoicorum II,1, in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 895f.<br />

63 Manuductio ad stoicam philosophiam III,22 und 23 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 808-818.<br />

64 »Sed et est alia definitio, si non Stoicorum, digna ipsis: philosophiam esse meditationem mortis.« (Manuductio<br />

ad stoicam philosophiam II,2 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 685f.) (›Aber es gibt noch eine andere<br />

Definition, die zwar nicht von den Stoikern stammt, aber ihrer würdig ist: Philosophie ist das Bedenken des<br />

Todes.‹)<br />

65 »At ego mortem diu expertus sum. Quando? Antequam nascerer: Mors est non esse; id quale sit, iam scio«.<br />

(Physiologiae stoicorum III,11 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 989-992) (›Aber ich habe den Tod schon<br />

lange kennen gelernt. Wann? Vor meiner Geburt: der Tod bedeutet ein Nicht-Sein, das ich bereits kenne.‹)<br />

66 »Praeit et huc Socrates apud Platonem: Quicumque philosophiae studium recte et vere sunt amplexi, etsi<br />

nesciunt hoc alii, aliud nihil cogitant et student, quam abire et mori.« (Manuductio ad stoicam philosophiam II,2<br />

in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S.685f.) (›Auch dies hat bereits der platonische Sokrates [im Phaidon] vorweggenommen:<br />

Wer das Studium der Philosophie richtig und ernsthaft ergriffen hat, beschäftigt sich ausschließlich<br />

mit dem Abschied und Sterben, auch wenn dies anderen unverständlich ist.‹)<br />

67 ›Leben muss man lebenslang lernen, und was noch erstaunlicher ist: Man muss das ganze Leben lang lernen<br />

zu sterben. An anderer Stelle sagt Seneca: Es ist wichtig, den Tod zu lernen. Wer über den Tod nachdenken<br />

lässt, fordert dazu auf, über die Freiheit nachzudenken.‹ – Weiteres in Manuductio ad stoicam philosophiam<br />

II,2, wo Lipsius aus De brevitate vitae (107) und den 26. Brief der Epistuale morales zitiert.<br />

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