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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

wicklung nicht anders: »Ego ad sapientiam primus vel solus mei aevi Musas converti,<br />

ego e philologia philosophiam feci.« 22<br />

Justus Lipsius, <strong>als</strong> Joost Lips 1547 in Overijse zwischen Brüssel und Löwen<br />

geboren 23 , begann nach dem juristischen Examen seine wissenschaftliche Karriere<br />

mit der Veröffentlichung der textkritischen Schrift Variarum lectionum libri III, die<br />

seinen Ruhm <strong>als</strong> Philologe begründete. Im Gefolge des Kardin<strong>als</strong> Granvelle kam er<br />

1568 nach Rom, wo sich ihm bedeutende Bibliotheken öffneten und wo er den Umgang<br />

mit Marc-Antoine de Muret (1526-1585) und anderen führenden Humanisten<br />

seiner Zeit pflegte. <strong>Die</strong> Unterdrückung des niederländischen Aufstands durch Alba<br />

veranlasste ihn 1572, eine Professur an der protestantischen Universität Jena anzunehmen.<br />

Dort beschäftigte er sich intensiv mit römischen Historikern und bereitete<br />

den Druck der neuen Tacitus-Ausgabe vor, die 1574 bei Plantin in Antwerpen erschien<br />

und erstm<strong>als</strong> die Historien und die Annalen mit vielen wichtigen Konjekturen<br />

in der Reihenfolge ihres Entstehens wiedergab. In unserem Zusammenhang ist es<br />

nicht unwichtig, dass das an Kaiser Maximilian II. gerichtete Vorwort mit den letzten<br />

Worten des zum Selbstmord genötigten Senators Thrasea Paetus 24 , der wegen<br />

seiner konservativen und freimütig vorgetragenen Gesinnung den Hass Neros auf<br />

sich gezogen hatte, einen aktuellen Bezug herstellte:<br />

Tristia ex iis [den Annalen] pleraque, fateor, et legentibus maesta, sed singulis nostrum<br />

a Thrasea iam moriente dictum putemus ›specta, iuvenis, et omen quidem dii prohibeant,<br />

ceterum in ea tempora natus es quibus firmare animum expediat constantibus<br />

exemplis!‹ 25<br />

Fraglos interessiert sich Lipsius für Geschichtsschreibung <strong>als</strong> historia magistra vitae<br />

26 : <strong>Die</strong> Antike bekommt unmittelbare Relevanz für das politische Handeln in der<br />

Gegenwart, wenn der neustoische Philosoph den tapferen Tod des Thrasea am<br />

Ende der Annalen paränetisch <strong>als</strong> Vorbild notwendiger constantia interpretiert.<br />

Im Jahre 1581 lässt Lipsius historische und politische Erläuterungen zu den<br />

Annalen folgen. Seine philologische und historische Beschäftigung mit Tacitus<br />

mündet 1584 in einen eigenen philosophischen Dialog, der formal ganz dem humanistischen<br />

Diskurs verpflichtet ist. De constantia nimmt in Kürze und Prägnanz des<br />

Satzbaus stilistisch das Vorbild des Tacitus auf. Auch inhaltlich orientiert sich die im<br />

Dialog diskutierte Handlungsnorm an historischen Protagonisten des Tacitus wie<br />

Seneca, Helvidius und Thrasea, deren innere Autonomie und Todesverachtung sie<br />

über Herrscherwillkür und Schicks<strong>als</strong>schläge erhob.<br />

Es ist für die Entstehung des ›neuen Stoizismus› signifikant, dass Lipsius mit<br />

einem Traktat zur Ethik begann, 1604 mit seiner Manuductio ad stoicam philosophiam<br />

27 eine logische Systematik folgen ließ und erst 1604 die naturphilosophischen<br />

Voraussetzungen des Stoizismus in der Physiologia Stoicorum formulierte. Schon<br />

bei den griechischen Begründern der Stoa und ihren kaiserzeitlichen Schülern Musonius,<br />

Seneca, Epiktet oder Marc Aurel stand die Moralphilosophie im Mittelpunkt,<br />

auf die Logik und Physik funktional ausgerichtet blieben. Fragen der Lebensführung<br />

stellten den wichtigsten Inhalt stoischen Philosophierens dar.<br />

22<br />

Lipsius schreibt an Johannes Woverius: ›Als erster oder sogar einziger meiner Generation habe ich die<br />

Musen zur Weisheit bekehrt, von der Philologie kam ich zur Philosophie.‹ (Opera omnia, a.a.O., Bd. 2,1, S.<br />

412-413)<br />

23<br />

Ich stütze mich im Folgenden vor allem auf Oestreich, a.a.O., S. 49 ff.<br />

24<br />

Ann. XVI,35,1<br />

25<br />

›<strong>Die</strong> meisten Ereignisse in den Annalen sind, wie ich zugebe, schrecklich und betrüben die Leser. Allerdings<br />

sollten sich manche von uns durch die Worte des sterbenden Thrasea getroffen fühlen, der Folgendes sagte:<br />

»Schau hierher, junger Mann! <strong>Die</strong> Götter mögen verhüten, dass mein Tod ein Vorzeichen für dich ist. Doch bist<br />

du in eine Zeit hineingeboren, in der man sein Herz durch Beispiele standhaften Verhaltens stark machen<br />

muss.«‹ (Lipsius, Justus: C. Cornelii Taciti Historiarum et Annalium libri qui exstant, Antwerpen1574, Einleitung,<br />

o.S.)<br />

26<br />

Cicero, de oratore II,9,36<br />

27<br />

Lipsius, Justus: Manuductio ad stoicam philosophiam libri tres, Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 613-832.<br />

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