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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

rer moralistischer Anspruch findet sich aber auch in den Sterbeszenen der profa-<br />

nen, nicht im <strong>Die</strong>nst der Kirche stehenden Historienmalerei, und so liegt es nahe,<br />

gemeinsame hermeneutische Voraussetzungen für die profane und kirchliche Iko-<br />

nographie von Sterben und Tod zu vermuten.<br />

Damit kommt zwingend die europäische Wirkung des Neustoizismus in den<br />

Blick, ohne welchen die profanen Sterbeszenen der Historienmalerei kaum ver-<br />

ständlich sind. Der gleiche neustoische Hintergrund ist auch für posttridentinische<br />

Märtyrerbilder unverkennbar. 4 Umso mehr gilt dies für mythologische und histori-<br />

sche Vorwürfe in der bildenden Kunst und auf der Bühne. Gerade die Themen-<br />

gruppen der ›sterbenden Philosophen‹ und der ›sterbenden <strong>Tugendheldin</strong>nen‹, die<br />

beide einen denkwürdigen, meist freiwilligen Tod darstellen, setzen bei Auftragge-<br />

ber und Betrachter einen neustoischen Hintergrund voraus, der den unter christli-<br />

chen Rahmenbedingungen kaum erträglichen Skandal des freiwilligen Selbstmords<br />

zu neutralisieren vermochte. Das in der Antike entwickelte ›Protokoll‹ des Philoso-<br />

phentods 5 wurde in den kirchlichen und in den profanen Darstellungen der Frühen<br />

Neuzeit aufgegriffen und fand eine Anwendung auch in der Ikonographie des<br />

Selbstmords ›starker Frauen‹.<br />

Mit dem Neustoizismus verband sich im 16. Jahrhundert ein wichtiger Para-<br />

digmenwechsel in der humanistischen Rezeption antiker Philosophie, sein Einfluss<br />

ist allerdings im Einzelnen nur schwer zu fassen. Bekanntlich hat Calvin (1509-<br />

1564) <strong>als</strong> erster 1536 von ›Neustoikern‹ (novi Stoici) 6 gesprochen und versucht,<br />

mit dieser Bezeichnung eine neue philosophisch-moralistische Strömung ein-<br />

zeit«, in: Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte 50 (1999), S. 75-97 und »Paradiese der Gewalt. Martyrium,<br />

Imagination und die Metamorphosen des nachtridentinischen Heiligenhimmels« in: Jahrbuch des Historischen<br />

Kollegs 2001, München 2002, S. 139-181 sowie Sterben und Unsterblichkeit, Zur Kultur des Martyriums<br />

in der frühen Neuzeit, München 2004.<br />

4 Wie ich im Kapitel »Posttridentinische Märtyrer und stoische Tugendhelden« (S. 204ff.) zeige, gleichen sich<br />

die ästhetischen Mittel der zur Andacht geschaffenen Märtyrerbilder und die Todesdarstellungen profaner<br />

Tugendhelden und –heldinnen. Oft sind Märtyrer von Tugendhelden nur durch ins Bild gesetzte Palmzweige<br />

und Kronen zu unterscheiden.<br />

5 In der Antike wurde der exitus illustrium virorum zu einem ›Protokoll‹ vorbildlichen Sterbens entwickelt, das<br />

stets am Tod des Sokrates orientiert blieb und den Akzent auf die freie Entscheidung für den Selbstmord legte.<br />

Geradezu topisch wurde der ultima vox <strong>als</strong> Vermächtnis an die Nachwelt große Aufmerksamkeit geschenkt:<br />

Vor allem die kaiserzeitliche römische Historiographie setzte sie zur Charakterisierung der politischen Gegner<br />

des Herrschers ein, die sich freiwillig oder gezwungen töteten. Ihr ›inszeniertes Sterben‹ brachte ihre politische<br />

und moralische Haltung enkomiastisch auf den Begriff. <strong>Die</strong>se literarische Inszenierung wurde unter veränderten<br />

Vorzeichen von den spätantiken Märtyrerakten übernommen, obwohl sich auf den ersten Blick der ›inszenierte<br />

Selbstmord‹ schwerlich in einen christlichen Kontext übertragen ließ. (Dazu Ronconi, A.: »exitus illustrium<br />

virorum« in: RAC VI, Stuttgart 1966, Sp. 1258-1268.)<br />

6 »Nunc quoque sunt inter Christianos novi Stoici, quibus non modo gemere ac flere, sed tristari quoque et<br />

sollicitum esse vitiosum est. [...] At nihil nobis cum ferrea ista philosophia.« (›Nun gibt es unter den Christen<br />

auch neue Stoiker, denen nicht nur seufzen und weinen, sondern auch traurig und bewegt sein <strong>als</strong> Laster gilt.<br />

[...] Aber wir haben mit dieser gefühllosen Philosophie nichts zu tun.‹) (Inst. Rel. Christ. III,8,9 [Corpus Reformatorum<br />

XXX, 2, Braunschweig 1864, S. 520]). Calvin verfasste 1532 einen Kommentar zu Senecas De clementia<br />

und war mit der (neu)stoischen Philosophie vertraut.<br />

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