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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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Kleopatra: <strong>Tugendheldin</strong> oder femme fatale<br />

Sunt lacrimae, dulcesque invitant murmure somnos,<br />

Et cum exusta siti Icarius canis arva perurit.<br />

Huc potum veniunt volucres, circumque supraque<br />

55 Frondibus insultant, tenero tum gramine laeta<br />

Terra viret, rutilantque suis poma aurea ramis;<br />

Hic ubi odoratum surgens densa nemus umbra<br />

Hesperidum dites truncos non invidet hortis. 68<br />

In 58 Hexametern gibt Castiglione der Marmorstatue das Wort und lässt sie den<br />

Betrachter an die Lebensgeschichte der Kleopatra erinnern. Dabei inszeniert der<br />

Dichter die Statue <strong>als</strong> effigies (Abbild), wie sie die Römer in ihren Triumphzügen oft<br />

68 Baldassare Castiglione: Cleopatra<br />

Wer du auch bist, der du diese Marmorstatue mit den von wilden Schlangen gebissenen Armen und den in von<br />

ewiger Nacht erstarrten Augen erblickst, glaube nicht, dass ich mich gegen meinen Willen dem Todesschlaf<br />

hingebe. Lange haben mich die Sieger daran gehindert, mein Leben zu beenden, um mich in feierlichem<br />

Triumph <strong>als</strong> königliche Beute mitzuführen. Vielleicht sollte ich römischen Frauen <strong>als</strong> Sklavin dienen, obwohl<br />

das glückliche Volk Ägyptens mich <strong>als</strong> Spross so vieler Könige verehrte, obwohl die ägyptische Erde mich mit<br />

ihren Wonnen hegte und obwohl der ganze Orient mich göttlicher Ehren für würdig hielt. <strong>Die</strong> im Leben widerfahrene<br />

Schande und die Verfolgung durch den Tyrannen wurden durch meine Tugenden und meinen hochherzigen<br />

Wunsch bezwungen, einen schönen [und würdigen] Tod zu sterben, bringt doch der Tod die Freiheit<br />

mit sich: Fesseln nahm ich nicht wahr, <strong>als</strong> ich <strong>als</strong> Schatten frei zu den Fluten des Tartarus hinab stieg, was mir<br />

selbst der unwürdige und treulose Feind gestatten musste.<br />

Der Feind entbrannte in schamloser Grausamkeit und Zorn, führte er doch zusammen mit den Siegeszeichen<br />

und den unterworfenen Völkerschaften eine Darstellung der unglücklichen Toten mit, <strong>als</strong> er im Triumphwagen<br />

auf das Kapitol fuhr und den grausamen Zuschauern ein unwürdiges Schauspiel zeigte. Er ließ ein Abbild aus<br />

atmendem Marmor schaffen, um unser bemitleidenswertes Geschick und unseren Untergang zu bezeugen,<br />

damit nicht die Kunde des Geschehens in späteren Zeiten unterginge oder mein Schicksal späteren Geschlechtern<br />

unbekannt bliebe.<br />

<strong>Die</strong>ses Abbild ließ Julius, der das Talent des Künstlers bewunderte, an einem viel besuchten Ort unter den<br />

Statuen antiker Helden zur Betrachtung aufstellen. Er ließ unter den Marmorblock [einen Brunnen errichten],<br />

ewige Tränen zum Trost des ergriffenen Herzens; nicht damit ich den freudig ersehnten Tod beweinte – denn<br />

die Schlange hat mir durch ihren todbringenden Biss keine Tränen entlockt und selbst der Tod hat mir keinen<br />

Schrecken eingejagt –, sondern damit ich traurig der teuren Asche und dem Schatten des geliebten Ehemanns<br />

<strong>als</strong> Totenopfer ewige Tränen, <strong>als</strong> Pfand ewiger Liebe geringe und traurige Gaben darbrächte. <strong>Die</strong>se [Tränen<br />

des Brunnens] haben feindliche Römer entfernt.<br />

Aber du, großer Leo, aus göttlichem Geschlecht, unter dessen Regierung die goldenen Zeiten und die Verehrung<br />

der Antike zurückgekehrt sind, erhöre die demütigen Bitten und lass mich nicht vergeblich flehen, wenn<br />

dich der allmächtige Vater zur Herrschaft über die elenden Sterblichen aus dem himmlischen Olymp herabgeschickt<br />

hat und wenn deine Macht deiner unbegrenzten Tugend entspricht, der du mit freigebiger Hand die<br />

Gaben der Götter austeilst. Ich erbitte nur wenig: gib, bester Vater, die Tränen [= den Brunnen] zurück, gib, so<br />

bitte ich, das Weinen zurück, das Weinen ist für mich ein Geschenk, hat mir doch das launische Schicksal<br />

nichts anderes gelassen. Obwohl Niobe es wagte, mit frevelhafter Rede die Götter herauszufordern, durfte sie<br />

trotzdem ihr Gefühl in den harten Marmor einschließen, weint sie doch gleichwohl und fließt doch beständig<br />

Wasser aus dem Marmor. Mein Leben war anders, ich lebte ohne Verbrechen, wenn man nicht Liebe ein Verbrechen<br />

nennt, Tränen sind der Trost der Liebenden. Füge [den Brunnen] hinzu, weil unsere Tränen den<br />

Kummervollen ein angenehmer Trost sind und durch ihr Murmeln zu süßem Schlaf einladen, wenn die Hundstage<br />

die verbrannten Felder mit Durst verbrennen. Hierher kommen Vögel zum Trinken und hüpfen um und<br />

über die Zweige, mit zartem Halm grünt die fröhliche Erde und goldene Früchte röten sich auf ihren Zweigen,<br />

hier, wo ein wohlriechender Hain mit dichtem Schatten den reich tragenden Bäume in den Gärten der Hesperiden<br />

nicht nachsteht.<br />

Meine Übersetzung berücksichtigt die Doppeldeutigkeit von lacrimae <strong>als</strong> Tränen der Kleopatra und gleichzeitig<br />

<strong>als</strong> Anspielung auf den von Papst Julius II. errichteten Brunnen. <strong>Die</strong> Anspielung auf Niobe kann sich nicht auf<br />

die heute in Florenz aufgestellten Niobiden beziehen, da diese Statuengruppe erst 1583 in Rom ausgegraben<br />

wurde. Vielmehr scheint Castiglione auf die Metamorphose der Niobe anzuspielen (z. B. Ovid, Metam. VI,<br />

148ff.); im Mythos wird sie nach dem Tod ihrer vierzehn Kinder auf ihre Bitte von Zeus in einen Fels verwandelt,<br />

der häufig Tränen vergießt (Ovid, Metam. VI, 612). – Ich zitiere den Text nach: Castiglione, Baldassare:<br />

Opere volgari e latine / novellamente raccolte, ordinate, ricorrette, ed illustrate, come nella seguente lettera<br />

può vedersi, da Gio. Antonio, e Gaetano Volpi – Padova Comino, 1733. <strong>Die</strong>se Ausgabe steht im Netz zur Verfügung:<br />

http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/castiglione/opere/index.htm (zuletzt aufgerufen: 10.12.2006). Eine<br />

im Besitz der UB München befindliche Ausgabe (Carmina quinque illustrium poetarum; Quorum nomina in<br />

seguenti pagina continentur. Additis nonnullis M. Antonij Flaminij libellis nunquam antea impressis. Venetiis<br />

Presb. Hieronymus Lilius, & socij excudebant. M.D.LVIII, S. 31f.) enthält zahlreiche Fehler.<br />

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