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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

ten stellen die Neustoiker ein in sich gefestigtes Individuum gegenüber, dessen<br />

constantia von Lipsius bezeichnenderweise meist mit Metaphern umschrieben<br />

wird, die Senecas Diktum »vivere militare est« 47 aufgreifen und die vernünftige Le-<br />

bensführung mit Krieg und Militärdienst vergleichen 48 . Wie bei den Stoikern der<br />

Antike gelten Affekte wie Angst, Wut und Mitleid <strong>als</strong> verdächtig und bedürfen der<br />

Steuerung 49 : Es gilt, die Affekte durch strenge Rationalität zu domestizieren und zu<br />

kontrollieren und damit innere Ruhe und Beständigkeit des Lebensentwurfs durch<br />

rationale Orientierung des Handelns zu gewinnen. »Voluntas et intellectus unum et<br />

idem sunt« 50 wird es Spinoza später auf den Begriff bringen.<br />

Philosophie wird dergestalt zur praktischen Handlungsanweisung und Le-<br />

benshilfe 51 ; die durch Affektkontrolle gewonnene innere Freiheit ist nie endgültiger<br />

Besitz, sondern muss stets neu errungen werden, da politische Rahmenbedingun-<br />

gen (fatum und necessitas) beständig die Handlungsfreiheit des sich seiner be-<br />

wusst werdenden Individuums bedrohen. Auf die epochale Erfahrung ständig<br />

neuer Kontingenz reagiert der Neustoiker nicht mit Apathie und Resignation, son-<br />

dern mit aktivem und selbstbestimmtem Handeln. 52 »Necessitate autem nihil fortius<br />

est« 53 : Gerade weil er sich den Zwängen der politischer Rahmenbedingungen nicht<br />

widersetzt, handelt er selbstbestimmt:<br />

Necessitatis non aliud effugium est, quam velle quod ipsa cogat. Eximie eximius ille<br />

Sapientum: ›Invictus esse poteris, si in nullum certamen te dimittes, quod in te non<br />

est vincere.‹ 54<br />

47<br />

»Atqui vivere, Lucili, militare est.« (›Leben heißt freilich, Kriegsdienst leisten, mein Lucilius.‹) (Epistulae morales<br />

96, 5); »Nobis quoque militandum est, et quidem genere militiae quo numquam quies, numquam otium<br />

datur: debellandae sunt in primis voluptates. « (›Auch wir müssen Kriegsdienst leisten, und zwar so dass niem<strong>als</strong><br />

Ruhe, niem<strong>als</strong> Muße eintritt: vor allem die Affekte müssen bekämpft werden.‹) (Epistulae morales 51, 6)<br />

48<br />

»Miles in castris, audito viae signo, vasa colligit; audito pugnae, deponit; animo, oculis, auribus, paratus ad<br />

omne imperium et intentus. Idem nobis sit, et in hac militia sequamur alacres et pleno gradu quocumque vocantem<br />

Imperatorem.« (›Der Soldat im Lager sammelt beim Marschsignal das Gepäck zusammen, setzt beim<br />

Kampfsignal das Gepäck ab; aufmerksam und mit allen Sinnen achtet er auf jeden Befehl. So sollten auch wir<br />

uns verhalten und in diesem Kampf engagiert und im Sturmschritt dem Befehlshaber folgen, wohin immer er<br />

ruft.‹) (De constantia I,15)<br />

49<br />

»Sicut bonae plantae in feraci agro, si negligantur, sylvescunt et horrescunt: cultura adhibita, utiles et fructiferae<br />

fiunt: sic affectus. « (›Wie gute Pflanzen auf einem fruchtbaren Acker verwildern und unfruchtbar werden,<br />

wenn sie vernachlässigt werden, aber nützlich und fruchttragend sind, wenn sie Pflege erhalten, verhält es sich<br />

auch mit den Affekten.‹) (Manuductio ad stoicam philosophiam, Opera omnia, a.a.O.,Bd. 4,2, S.613-821, hier:<br />

III,7, S. 698f.)<br />

50<br />

›Wille und Vernunft sind ein und dasselbe.‹ (Ethica II prop. 49, leicht verfügbar über [zuletzt aufgerufen:<br />

13.02.2007]: http://www.thelatinlibrary.com/spinoza.ethica2.html)<br />

51<br />

»Nihil palpat ille medicus, nihil blanditur: sed penetrat, pungit, radit, et acri quodam sermonum sale sordes<br />

absterget animorum« (›Der [Philosoph <strong>als</strong>] Arzt schmeichelt nicht, liebkost nicht: sondern dringt ein, sticht,<br />

schneidet aus und entfernt mit dem scharfen Salz der Ermahnung die Schlacken des Herzens.‹) (De constantia<br />

I,10)<br />

52<br />

»Arma adversum haec indue, et arripe hoc fatale telum.« (›Bewaffne dich dagegen und nimm diese todbringende<br />

Waffe.‹) (De constantia I,21)<br />

53<br />

›Nichts ist stärker <strong>als</strong> die Notwendigkeit‹. (De constantia I,21)<br />

54<br />

›Der Notwendigkeit entgeht man nur, wenn man will, wozu sie ohnehin nötigt. Ein bekannter Denker [Seneca]<br />

hat es treffend ausgedrückt: ‚Du kannst nur unbesiegt bleiben, wenn du dich nicht auf Kämpfe einlässt, die<br />

nicht zu gewinnen sind.’‹ (De constantia I,21)<br />

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