21.06.2013 Aufrufe

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

lassen sich seine Thesen rekonstruieren, da er sie an anderer, unauffälligerer Stel-<br />

le hinreichend klar angedeutet hat. Angesichts der zwischen den Konfessionen<br />

unstrittigen Ablehnung des Selbstmords war es durchaus nicht ungefährlich, das<br />

Thema zur Sprache zu bringen. Andererseits begründete in der antiken Stoa die<br />

moralische Autonomie des Individuums und der damit verbundene Ausweg des<br />

Selbstmords die Widerstandsmöglichkeit gegenüber der Tyrannenwillkür und nahm<br />

deshalb einen wichtigen Platz in der stoischen Ethik ein.<br />

Nicht immer lässt sich der subversive Charakter neustoischer Umbesetzun-<br />

gen traditionaler christlicher Wertungen auf den ersten Blick erkennen. Wenn Lip-<br />

sius einen fiktiven Gesprächspartner 57 tröstet, der die Nachricht vom Tod eines<br />

gemeinsamen Freundes überbringt, erscheint Sterben geradezu wünschenswert<br />

und gilt, ganz den Auffassungen der vorchristlichen Stoa entsprechend, <strong>als</strong> Zu-<br />

fluchtsort vor den Übeln der Welt:<br />

Profecto illa [i.e.: mors] medicina morborum, refugium et asylum malorum est: et in<br />

mundi his fluctibus portus, quem sapiens numquam fugiat, imo (Deo vocante) totis<br />

velis in eum feratur. 58<br />

Der paränetische Kontext und ein flüchtiger rhetorischer Gottesbezug verdecken,<br />

dass die Wünschbarkeit des Todes die Billigung des Freitodes wohl einschließt.<br />

Gerade weil es sich um eine beiläufige Äußerung handelt, dürfte sie die neusto-<br />

ische Grundposition wiedergeben. An anderer Stelle 59 finden sich vergleichbare<br />

Wendungen: Wie alle Umstände und Gefahren, die die moralische Identität (cons-<br />

tantia) des Menschen bedrohen, zählt der Tod zu den indifferentia, denen mit<br />

Gleichmut zu begegnen ist und die den Kernbereich der Identität nicht berühren. 60<br />

Erst die ständige Meditation des Todes 61 lässt die notwendige Distanz der Lebens-<br />

57 De magnitudine Romana, in: Opera Omnia, a.a.O., Bd. 3,2, S. 655-864, hier: 810.<br />

58 ›In Wirklichkeit ist der Tod ein Heilmittel aller Krankheiten, Zuflucht und Asyl vor Übeln und ein vor den Fluten<br />

dieser Welt [schützender] Hafen, den der Weise niem<strong>als</strong> scheuen soll, in den er vielmehr, wenn Gott ihn<br />

ruft, mit vollen Segeln einfahren sollte.‹<br />

59 »Duo sunt, quae arcem hanc in nobis constantiae oppugnant, f<strong>als</strong>a bona, f<strong>als</strong>a mala. Utraque sic appello,<br />

quae non in nobis sed circa nos, quaeque in interiorem hunc hominem, id est animum, proprie non iuvant aut<br />

laedunt. […] In priori classe numerant opes, honoris, potentiam, sanitatem, longaevitatem, in posteriore inopiam,<br />

infamiam, impotentiam, morbos, mortes: et ut verbo uno complectar, quidquid aliud fortuitum aut externum.«<br />

(De constantia I,7) (›Zwei Dinge belagern gewissermaßen das Bollwerk unserer constantia, vermeintliche<br />

Güter und vermeintliche Übel. Beide bezeichne ich so, da sie nicht in uns sind, sondern uns umgeben und<br />

da sie den inneren Menschen – den Geist – nicht wirklich unterstützen oder schädigen [...]. Zu der Gruppe der<br />

vermeintlichen Güter zählen Reichtum, Ansehen, Macht, Gesundheit, langes Leben, zur Gruppe der vermeintlichen<br />

Übel Not, mangelndes Ansehen, eine einflusslose gesellschaftliche Stellung, Krankheiten und Tod. Um<br />

es mit einem Wort zusammenzufassen: dies alles sind zufällige und außerhalb des Menschen liegende Dinge.‹)<br />

60 »Causae communes, quia vitae haec inter indifferentia est, itemque ipsa mors. « (›Allgemeine Gründe, warum<br />

dieses Leben zu den unwichtigen Dingen gehört, selbst der Tod.‹) Manuductio ad stoicam philosophiam<br />

III,22 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 808-813.<br />

61 »Incertum est, quo te loco mors exspectet: itaque tu illam omni loco exspecta. Philosophia autem, ut tetigi,<br />

eo ducet et hanc meditationem, et ab ea robur animo tuo indet.« (›Es ist ungewiss, wo dich der Tod erwartet:<br />

188

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!