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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

eine eigene Anleitung und Praxis der Reflexion, der Reue und der Bitte um Sün-<br />

denvergebung entwickelt hatten. Der für den Neustoizismus bezeichnende »akon-<br />

fessionelle Theismus« 82 verdeckte oft die Differenzen zur christlichen Vorstellung.<br />

Auf der Bühne wie in der Historienmalerei wurden in der Frühen Neuzeit Todesin-<br />

szenierungen (meditationes mortis) in unzähligen Varianten vorgeführt, wobei sich<br />

christliche und neustoische Elemente oft nicht unterscheiden lassen, weil sowohl<br />

Märtyrerdramen und Historiendramen <strong>als</strong> auch die Historienmalerei auf Charakter-<br />

stärke (constantia) und Tapferkeit (virtus) der Protagonisten abheben. 83 Nicht zu-<br />

fällig stellt Lohenstein seinem Kleopatra-Drama ein Tacitus-Zitat voran, das den<br />

tugendhaften Tod dem schändlichen gegenüberstellt 84 ; erst in der Katastrophe<br />

(necessitas) kann der Protagonist wahre Größe zeigen. <strong>Die</strong> Furchtlosigkeit vor<br />

dem Tod teilen Historien- und Märtyrerdrama: »Wer rühmlich stirbt der hat genung<br />

gelebt« 85 , erklärt Antonius in der Cleopatra Lohensteins.<br />

Für Inszenierungen vorbildlichen Sterbens konnte das profane und das religiöse<br />

Drama der Frühen Neuzeit auf die durch den Neustoizismus vermittelte literarische<br />

Tradition der antiken Populärphilosophie zurückgreifen. <strong>Die</strong> literarische Inszenierung<br />

des exitus illustrium virorum hatte in der Antike ein ›Protokoll‹ exemplarischen<br />

Sterbens entwickelt, das stets am Tod des Sokrates orientiert blieb und den Akzent<br />

auf die freie Entscheidung für den Selbstmord legte. Geradezu tropisch wurde der<br />

ultima vox 86 <strong>als</strong> Vermächtnis an die Nachwelt große Aufmerksamkeit geschenkt:<br />

Vor allem die kaiserzeitliche römische Historiographie setzte sie zur Charakterisie-<br />

sondern ihn sein ganzes Leben lang bedacht hat.« (Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, München / Wien<br />

1980, S. 398) Das Sterben geschieht in der Gewissheit einer »Verdienstfrömmigkeit« (Mikuda-Hüttel, a.a.O.,<br />

S. 94) Unaufgeregt und heilsgewiss stirbt der Patron des guten Sterbens in Historiengemälde von Rutilio Manetti<br />

(1571-1639) oder Franz Anton Maulbertsch (1724-1796), aber auch im Oratorium La morte di San Giuseppe<br />

(um 1730) von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736), begleitet von Maria, dem Amor Divino und San<br />

Michele: »Se Giuseppe così more, / Di morir non ha timore / Chi servir sempre lo sa. / Ei lo guida, ei lo difende<br />

/ Dalle furie più tremende / E gli impetra al fin pietà.« (So singen im abschließenden Tutti-Satz Maria, Amor<br />

Divino und San Michele.)<br />

82 Hankamer, Paul: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, Stuttgart 2 1947, S. 313<br />

83 So widersetzt sich – um ein wenig beachtetes Beispiel zu wählen – im Märtyrerdrama Maeghden von Joost<br />

van den Vondel (1587-1679) Ursula dem sie bestürmenden Hunnen Attila zunächst lange Zeit argumentativ,<br />

am Ende auch physisch, <strong>als</strong> Attila ihr die Kreuzesfahne entreißen will: »Ghy boedermoorder, most dien<br />

Maeghdenmoord beginnen / Met zoo een schendigh stuck, <strong>als</strong> tschenden van het Kruis. / Zoo komen u met<br />

recht Gods plagen t’effens t’huis. « (IV,1258) (›Du Brudermörder musst diesen Jungfrauenmord mit etwas so<br />

Schändlichem beginnen wie der Entweihung des Kreuzes. So treffen dich zu Recht alle Strafen Gottes zugleich.‹)<br />

Nach diesem Protest tötet Attila die junge Frau mit einem Pfeil und gibt das Signal zur Ermordung<br />

ihrer Begleiterinnen (van den Vondel, Joost: De werken, hrsg. von J. F. M. Sterck u.a., Amsterdam 1929, Bd.<br />

3, S. 708-780.). –- Vgl. zum Thema: Szarota, Elida Maria: Künstler, Grübler und Rebellen, Studien zum europäischen<br />

Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern 1967.<br />

84 »Moriendum victis, moriendum deditis: id solum referre, novissimum spiritum per ludibrium et contumelias<br />

effundant, an per virtutem.« (Hist. III,66) (›Sterben müssen die Besiegten, sterben auch die, die sich ergeben<br />

haben; allein darauf kommt es an, ob man den letzten Atemzug unter Hohn und Schande oder in Tapferkeit<br />

tut.‹)<br />

85 Lohenstein, Daniel Casper von: Cleopatra, Stuttgart 1998, III,435<br />

86 Es ist anzunehmen, dass bereits die kaiserzeitlichen Sammlungen ›letzter Worte‹ eine antimonarchistische<br />

Tendenz verfolgten und die Selbständigkeit des Bürgers gegenüber Kaisern und Tyrannen betonten. Genannt<br />

seien nur der erzwungene Tod des Senators Thrasea Paetus, der mehrfach offen Nero kritisiert hatte (Annales<br />

XVI,21-34), oder der Tod des Philosophen und ehemaligen Prinzenerziehers Seneca, der wegen seines <strong>als</strong><br />

Missbilligung interpretierten Rückzugs aus der Politik den Hass Neros auf sich gezogen hatte (Annales XV,60-<br />

64).<br />

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