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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

lung ankündigt: »Sapientem sumere aliquando mortem posse, decere, debere: ex<br />

Stoico quidam decreto.« 68<br />

Werden Autonomie und freier Willen <strong>als</strong> oberstes Ziel der stoischen Lebens-<br />

führung bedroht, kann der Freitod moralisch gerechtfertigt sein:<br />

Sapiens vivit quantum debet, non quantum potest. Videbit ubi victurus sit, cum quibus,<br />

quomodo, quid acturus. Si multa occurrunt molesta et tranquillitatem turbantia,<br />

emittit se; nec hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coepit suspecta<br />

esse fortuna. Nihil existimat sua referre, f a c i a t finem an a c c i p i a t . 69<br />

Äußere Umstände (necessitas), Krankheit, Alter, Armut oder politischer Druck kön-<br />

nen die Autonomie des Einzelnen bedrohen und einschränken. Wird dabei die ei-<br />

gene Identität bedroht, darf auch der Selbstmord in Erwägung gezogen werden. Zu<br />

dieser Entscheidung gibt es allerdings keine klare Grenzziehung, da der Ermes-<br />

sensspielraum subjektiv ist und eine die persönliche Freiheit bedrohende Situation<br />

ganz unterschiedlich bewertet werden kann. <strong>Die</strong> frühneuzeitliche Wertung der per-<br />

sönlichen Freiheit und Verantwortung des Individuums 70 wird erneut deutlich und<br />

steht im Zentrum der neustoischen Philosophie, die zwischen einem natürlichen<br />

und einem selbstgewählten Tod nicht grundsätzlich unterscheidet: das Leben ist<br />

einem Gastmahl vergleichbar, das man auch verlassen darf, wenn sich dadurch<br />

die Willensfreiheit retten lässt. 71<br />

68 ›Nach Auffassung eines gewissen Stoikers [Senecas] kann, darf und muss ein Philosoph unter bestimmten<br />

Umständen den Tod wählen.‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam III,22 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S.<br />

808-813) <strong>Die</strong> Todesarten sind dabei vielfältig: »Unam nascendi viam natura dedit, mille moriendi.« (Manuductio<br />

in stoicam philosophiam III,22 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 808-813) (›Einen einzigen Weg, geboren<br />

zu werden, hat die Natur vorgesehen, tausend, um zu sterben.‹)<br />

69 ›Der Philosoph lebt, solange er muss, nicht solange er kann. Er achtet darauf, wo, mit wem, auf welche<br />

Weise er lebt und was er tut. Begegnet ihm viel Beschwerliches, das seine innere Ruhe stört, ergreift er für<br />

sich selbst die Freiheit, nicht erst in äußerster Bedrängnis, sondern sobald ihn das Glück verlässt. E s i s t<br />

f ü r i h n o h n e B e d e u t u n g , o b e r s e i n E n d e h e r b e i f ü h r t o d e r e s a n n i m m t . ‹ (Manuductio<br />

ad stoicam philosophiam III,22 in: Opera omnia, a.a.O., Bd.4,2, S. 808-813) Lipsius zitiert an dieser<br />

Stelle Passagen aus Senecas 70. Brief an Lucilius.<br />

70 »Malum est in necessitate vivere; sed in necessitate vivere, necessitas nulla est«. (›Es ist ein Übel, in Bedrängnis<br />

zu leben; aber es ist nicht notwendig, in Bedrängnis zu leben.‹) Lipsius zitiert hier den 12. Brief des<br />

Seneca. »Et nonne haec (libertas dico) finis aut fructus sapientiae est?« (›Und liegt nicht darin (in der Freiheit)<br />

das Ziel und der Ertrag des Philosophierens?)‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam III,22 in: Opera omnia,<br />

a.a.O., Bd.4,2, S. 808-813)<br />

71 »Sicut a convivio satur possum surgere et abire, ludum, cum libet, relinquere, tale hic esse. Epictetus: Cui<br />

enim licet, cum lubet, a convivio discedere, neque ultra ludere: etiamne is manens affligitur et nauseat? Non<br />

potius, ut ludo, interest quamdiu oblectatur? Modus tantum et occasio has res temperant: neque interest multum,<br />

mors ad nos veniet, an ad illam nos.« (Manuductio ad stoicam philosophiam III,22 in: Opera omnia,<br />

a.a.O., Bd.4,2, S. 808-813) (›Wie ich gesättigt von einem Gastmahl aufstehen und weggehen darf oder ein<br />

Spiel verlassen, wenn ich es mag, so verhält es sich auch hier. Wem sollte es (nach Epiktet) nicht erlaubt sein,<br />

nach Belieben ein Gastmahl zu verlassen und sich nicht weiter am Spiel zu beteiligen, wenn er sonst unglücklich<br />

und krank würde? Ist es nicht besser, nur so lange mitzuspielen, wie es gefällt? Nur die zufälligen Umstände<br />

regeln diese Dinge, und es ist kein großer Unterschied, ob der Tod zu uns kommt oder wir zu ihm.‹) –<br />

Auch wenn andere Todesarten nicht ausgeschlossen werden, bleiben der durch Sokrates nobilitierte Giftbecher<br />

und das von Seneca legitimierte Öffnen der Venen bevorzugte Formen des philosophischen Freitods:<br />

Quaeris igitur, quod sit ad libertatem iter? Quaelibet in corpore tuo vena. (›Du fragst <strong>als</strong>o, welchen Weg es zur<br />

Freiheit gibt? Jede beliebige Vene in deinem Körper.‹ [Manuductio ad stoicam philosophiam III,22 in: Opera<br />

omnia, a.a.O., Bd.4,2, S. 808-813])<br />

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