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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Verwandtschaft<br />

ist, werde ich im nächsten Kapitel noch ausführlich behandeln, hier genügt die<br />

Feststellung, daß es unter den Sa praktisch keine unverheirateten Männer und<br />

Frauen gibt, es sei denn, diese sind mit einem schweren gesundheitlichen Makel<br />

behaftet oder bereits alt und verwitwet. Wie in allen Gesellschaften gibt es auch<br />

bei den Sa bestimmte Vorstellungen darüber, welche Verbindungen besonders<br />

schicklich sind, welche noch toleriert werden können und welche man, obwohl<br />

sie vielleicht gar nicht so selten vorkommen, für ungebührlich hält. 111 Allerdings<br />

unterscheidet sich, wie überall, auch hier die soziale Praxis von dem, was sich<br />

eigentlich gehört. Mich interessiert hier besonders die Bandbreite an individuell<br />

verschiedenen Möglichkeiten, Partnerschaften einzugehen und Hochzeiten in die<br />

Wege zu leiten. Dabei werden wir feststellen, wie flexibel die gleich zu beschreibenden<br />

Regeln tatsächlich gehandhabt werden.<br />

Betrachten wir zuerst eine Situation, die von allen Beteiligten für sehr wünschenswert<br />

erachtet wird. Idealerweise sollte ein Junge ein Mädchen aus derjenigen<br />

buluim zur Frau nehmen, aus der die Mutter des Vaters (tsibik) stammt.<br />

Parallel dazu sollte ein Mädchen einen Jungen aus derjenigen buluim zum Mann<br />

nehmen, aus der die Mutter seines Vaters (tsibik) kommt. Solche Allianzen von<br />

(auch klassifikatorischen) Kreuzcousins nennt man imaraga, was soviel bedeutet<br />

wie „es kommt und geht“, eine Anspielung auf die zwischen den Generationen<br />

alternierenden, stetig wiederkehrenden Allianzen. 112 Wenn wir uns das<br />

Konzept der batatun ins Gedächtnis rufen, wird deutlich, daß es bei imaraga<br />

nicht um blutsverwandtschaftliche Allianzen geht, sondern daß alle klassifikatorischen<br />

Verwandten gemeint sind, die von einem gemeinsamen Ort stammen. In<br />

der Tat ist das imaraga Konzept jedoch noch weiter gefaßt, und beschränkt sich<br />

weder auf eine bestimmte batatun noch auf eine bestimmte buluim, wie Jolly<br />

zutreffend beschreibt:<br />

„As I discovered in the process of collecting statistics on marriage it embraces all appropriate<br />

women from the buluim of the fathers mother, and also such women from buluims seen to be<br />

identified or associated with the father’s mother’s buluim.” (Jolly 1994a:120)<br />

Obwohl ohnehin schon relativ flexibel, betrug der Anteil an wünschenswerten<br />

imaraga Verbindungen in den kastom Dörfern in den 70er Jahren aus Sicht der<br />

Männer lediglich 25.33%. Der absolute Wert liegt vermutlich noch niedriger,<br />

denn der Fall ist wahrscheinlich, daß ein Mann eine aus seiner Sicht passende<br />

imaraga Verbindung eingeht, während für seine Frau ein anderer Partner im<br />

Sinne des imaraga Ideals womöglich besser gepaßt hätte. In diesem Fall würde<br />

zwar der Mann angeben, im Sinne des imaraga Ideals geheiratet zu haben, seine<br />

Frau jedoch nicht. Daß beide eine besonders wünschenswerte imaraga Verbindung<br />

eingegangen sind, ist also mit Sicherheit noch seltener. Andererseits könn-<br />

111 Ich gehe hier nicht explizit auf das universelle Inzesttabu ein, das bei den Sa genauso<br />

streng gehandhabt wird, wie überall sonst auch (vgl. f.a. Fox 2003:54ff).<br />

112 Jolly bedient sich mit „imadaga“ einer anderen Schreibweise, hier hat wohl seit den 70er<br />

Jahren eine Lautverschiebung stattgefunden.<br />

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