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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Interpretationsversuche des Nicht-Mitteilbaren<br />

Dabei sind aber, so meint Foster, die einzelnen Mitglieder in der Regel nicht in<br />

der Lage zu erkennen, welche Regeln sie eigentlich befolgen, geschweige denn,<br />

diese Regeln analytisch zu erfassen oder mitzuteilen. Vielmehr werden sie einfach<br />

angewandt, ähnlich wie grammatikalische Regeln im Normalfall auch dann<br />

befolgt werden, wenn man sie nicht explizit formulieren kann. 228 Ich betrachte<br />

es daher, neben der Beschreibung des „lokalen Wissens“, als die zweite wesentliche<br />

Aufgabe des Ethnologen, die Beschaffenheit dieser Regeln, das „Ethos“ 229<br />

einer Gesellschaft, das eine reale psychologische Kraft darstellt, herauszufinden<br />

und zu analysieren. 230 In unserem Falle scheint mir eine Rekonstruktion dieses<br />

„Ethos“ anhand der überlieferten Mythen, Symbole und Rituale durchaus möglich<br />

zu sein. Allerdings, so füge ich hinzu, hätten wir damit nur eine von mehreren<br />

Bedeutungsschichten entschlüsselt, und zwar eine, die möglicherweise nur<br />

noch als weit entfernter Schatten im Bewußtsein der Akteure verankert ist, während<br />

andere, jüngere Motive, die sich noch gar nicht in Mythen, Symbolen oder<br />

Ritualen, die ich für vergleichsweise träge Erscheinungen halte, die sich geänderten<br />

kulturellen Rahmenbedingungen nur sehr langsam anpassen, niedergeschlagen<br />

haben, inzwischen eine mindestens ebenso große Bedeutung gewonnen<br />

haben könnten. Ich denke dabei vor allem an die in jüngster Zeit so wichtig gewordene<br />

ökonomische Bedeutung des gol. Aus diesem Grund schließe ich mich<br />

auch den Empfehlungen von Raymond Firth, Maurice Godelier und anderen<br />

Vertretern einer neomarxistischen Ethnologie an, die meinen, daß der Ethnologe<br />

„mit wissenschaftlicher Strenge die ökonomische Basis einer Gesellschaft untersuchen<br />

müsse, weil die soziale Struktur eng von den spezifischen ökonomischen<br />

Verhältnissen abhängt“ ohne daß, so füge ich hinzu, direkte Auswirkungen auf<br />

Mythen, Rituale und Symbole unmittelbar sichtbar würden (vgl. Godelier 1973:<br />

45ff). Um es plastisch auszudrücken: Wenn bei uns der erhöhte Konsum in den<br />

letzten Wochen vor Weihnachten de facto eine entscheidende Bedeutung für<br />

228 Nicht umsonst hat sich z.B. Edwin Hutchins bei seiner Sequenzanalyse von Konversationen<br />

der von ihm untersuchten Trobriand Insulaner vor allem für das interessiert, was diese<br />

nicht gesagt haben, und konnte so auf deren unausgesprochene Übereinkünfte Rückschlüsse<br />

ziehen (Hutchins 1980).<br />

229 Laut Foster können “ethos”, “cognitive view”, “world view”, “world view”, “perspective”,<br />

“basic assumptions”, oder “implicit premises” synonym gebraucht warden (Foster 1965).<br />

230 Ich möchte nochmals betonen, daß ich die Frage für unbeantwortet halte, ob sich hinter<br />

den vordergründig so ungeheuer mannigfaltigen Ausprägungen von „spezifischer sozialer<br />

Realität“ nicht auf einer tieferen Ebene doch stets universale „Urbilder“ oder „Strukturen“<br />

finden lassen, die man erkennen und benennen kann. Ob man dabei das Modell des Strukturalismus<br />

bemüht (vgl. Lévi-Strauss 1977), kognitionswissenschaftlich argumentiert (vgl. f.a.<br />

Reimann 1998), Eliades „universelle Symbolik“ heranzieht (Eliade 1990; 1994) oder Kultur<br />

dramatologisch betrachtet, also davon ausgeht, daß Menschen, weil sie immer und überall mit<br />

den gleichen Grundfragen konfrontiert sind, doch immer im Kern ähnliche kulturelle Bewältigungsstrategien<br />

entwickeln (vgl. W. <strong>Lipp</strong> 1994), spielt bei dem Versuch, zu einer grundsätzlichen<br />

Haltung zu gelangen, gar keine so große Rolle, da es zunächst um die grundsätzliche<br />

Abgrenzung gegenüber all denjenigen ginge, die die totale Flexibilität, um nicht zu sagen Beliebigeit,<br />

der kulturellen Formen postulieren.<br />

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