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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Abschliessende Bemerkungen<br />

Die Untersuchung hat erbracht, daß das Turmspringen der Sa als ein „riskantes<br />

Spektakel“ betrachtet werden muß, das auf mehreren, unterschiedlichen Ebenen<br />

Bedeutungen entfaltet. Analysiert man Mythen und Symbole, begegnet uns unverkennbar<br />

das Motiv einer künstlichen Geburt bzw. kollektiven Vaterschaft.<br />

Die Entdeckung dieses Motivs an sich ist keinesfalls neu oder gar einzigartig,<br />

eine nachgeburtliche Behandlung der Knaben durch die Männer läßt sich weltweit<br />

immer wieder beobachten. Allerdings trägt diese dann in aller Regel die<br />

typischen Merkmale einer rituellen Initiation, sie setzt also für die Mitglieder<br />

einer Altersgruppe die verpflichtende Teilnahme voraus, kreiert eine communitas,<br />

schafft Liminalität und hat den Statuswechsel der Initianden zur Folge. Dies<br />

alles ist beim gol nicht der Fall. Denn obwohl es unverkennbar die Züge einer<br />

künstlichen Geburt trägt, fehlen ihm doch, erstaunlicherweise, die typischen<br />

Merkmale des eigentlichen Initiationsrituals. Ob die rituellen Elemente einst<br />

stärker ausgeprägt waren als heute, und das gol früher vielleicht ein „echtes“<br />

Initiationsritual darstellte, läßt sich wohl nicht mehr rekonstruieren bzw. abschließend<br />

beantworten. Allerdings könnte ein kulturübergreifender Vergleich<br />

mit anderen, ähnlichen Phänomenen das hier erzielte Ergebnis in einen größeren<br />

Kontext stellen und daher auch in ritualtheoretischer Hinsicht aufschlußreich<br />

sein. Es hat sich herausgestellt, daß der Versuch, das gol in die gängigen begrifflichen<br />

Kategorien einzuordnen, mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist. Dies<br />

aufgezeigt zu haben, könnte man vielleicht als den wichtigsten theoretischen<br />

Ertrag dieser Arbeit bezeichnen, der einer künftigen Diskussion einige fruchtbare<br />

Impulse geben kann: Ich meine belegt zu haben, daß das Turmspringen sich<br />

der liminal-liminoid-Dichotomie von Victor Turner entzieht, daß diese, mit anderen<br />

Worten, neu zu überdenken ist. Denn obwohl das Turmspringen eindeutig<br />

in einem „vormodernen“ Kontext angesiedelt war, und teils bis heute noch ist,<br />

trägt es weitaus mehr liminoide als liminale Züge. Insofern könnte man meinen,<br />

daß meine Ergebnisse allen denjenigen gelegen kommen, die die „Vielstimmigkeit“<br />

des Rituals postulieren. Ich habe diesbezüglich aber bereits deutlich gemacht,<br />

daß man nicht gut daran tut, den Begriff des „Rituals“ zu weit zu überdehnen,<br />

da er sonst noch weiter an Trennschärfe gegenüber den anderen Formen<br />

der kulturellen Performance verliert. Wenn es nun einmal der Fall ist, daß sich<br />

das gol nicht als Ritual beschreiben läßt, ist es sinnvoller, einen anderen Begriff<br />

dafür heranzuziehen, als den bestehenden zu erweitern. Da sich das Turmspringen<br />

heute als eine Art aufwendig inszeniertes Spiel präsentiert, habe ich es, wie<br />

ich meine aus guten Gründen, als „riskantes Spektakel“ bezeichnet. Den Begriff<br />

der „Liminoidität“ hingegen verwerfe ich als unbrauchbares, weil zu unscharfes<br />

begriffliches Instrument.<br />

Eine weitere Dimension des Turmspringens erschließt sich, wenn man es mit der<br />

Verwandtschaftsordnung der Sa in Beziehung setzt. Deren heute patrilineares<br />

System enthält nämlich nach wie vor auch einige unübersehbar matrilineare<br />

Elemente, weshalb ich die Frage aufgeworfen habe, ob der Übergang zwischen<br />

Matri- und Patrilinearität hier möglicherweise ein eher rezentes Ereignis gewe-<br />

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