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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Gol und Mythos – Versuch einer Mythenanalyse<br />

brachte das Mädchen zu ihrem Ehemann, aber es lief immer wieder weg 236 . Die Familie aber<br />

brachte sie stets zu ihrem Ehemann zurück. Eines Tages kletterte das Mädchen auf einen großen<br />

Banyan-Baum. Sie rief ihren Mann. Und weil der glaubte, daß sie sich in Gefahr befände,<br />

kam er, um sie zu retten. Aber das Mädchen hatte seine Beine mit zwei Lianen gesichert und<br />

sprang vom Baum herunter. Ihr Mann sah, dass sie sprang und konnte gerade noch ihre Füße<br />

erreichen. Er wollte sie festhalten und dachte dann bei sich: es ist besser, wenn wir beide tot<br />

sind, und sprang ebenfalls. Das Mädchen hing, als es unten ankam, sicher in der Liane, der<br />

Mann hingegen war tot. Das Mädchen war jetzt aber traurig weil sie sah, dass der Mann sie<br />

wirklich liebte und wollte ihn wieder lebendig machen. Sie holte ein besonderes Blatt (walu<br />

brang), berührte ihren Mann damit, und der wurde wieder lebendig. Die beiden lebten nun<br />

friedlich bis an ihr Lebensende. Der Name der buluim existiert bis heute. Der Banyan Baum<br />

stand bis vor kurzer Zeit noch in der Nähe von Londar.<br />

(Feldnotiz <strong>Thorolf</strong> <strong>Lipp</strong>, Mythos erzählt von Josef Gulgul und Pierre Tagere, Londar, November<br />

2004)<br />

Was rechtfertigt es, diese Geschichten überhaupt für Mythen zu halten? Zunächst<br />

wird man allgemein sagen können, daß es sich hier um Ätiologien handelt,<br />

in denen beschrieben wird, warum etwas ist, wie es eben ist. Dabei wird<br />

jedoch nichts erklärt, wird keine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge vermittelt,<br />

sondern ein „bündiger“ Präzedenzfall beschrieben, an den überdies keine<br />

weitergehenden Fragen gerichtet werden. Vielmehr verhalten sich die Sa zu diesen<br />

Geschichten, etwa, indem sie diese für so wichtig halten, daß sie bis heute<br />

bekannt sind und man sie z.B. dem Ethnologen (ernsthaft) vorträgt, der möglichst<br />

alles über das Turmspringen in Erfahrung bringen möchte. Ich habe bereits<br />

in Kap. 9 angedeutet, wie und zu welchen Gelegenheiten Mythen bei den<br />

Sa erzählt wurden bzw. auch heute noch erzählt werden und will hier nur noch<br />

einmal ergänzen, daß längst nicht alle Sa alle Mythen kennen, sondern man stets<br />

auf ein paar wenige Männer verweist, die sich besonders gut mit dem Mythenkanon<br />

auskennen.<br />

Eingangs dieser Arbeit wurde die Frage gestellt, ob es eine „unverbrüchliche<br />

Einheit“ zwischen dem geschilderten Mythos (bzw. seinen Varianten) und dem<br />

Turmspringen gibt, oder ob der Mythos bei der neuerlichen Verbreitung des<br />

Turmspringens in der Region überhaupt noch eine Rolle spielt. Dazu ist zu sagen,<br />

daß sich eine genauere Kenntnis des Mythos bzw. seiner Varianten auf diejenigen<br />

Gegenden bzw. Dörfer beschränkt, in denen das gol nach wie vor aktiv<br />

veranstaltet wird, also vor allem Farsari, Bunlap (und die anderen kastom Dörfer)<br />

und Point Cross. In den übrigen skul Dörfern ist der Mythos, wenn überhaupt,<br />

in der Regel nur in und durch die längst schriftlich fixierte Form bekannt,<br />

er wird also nicht mehr mündlich, sondern bestenfalls noch schriftlich tradiert.<br />

Hier wie dort beschränkt sich die Exegese des Vorgetragenen durch die Sa<br />

selbst, auch das muß gesagt werden, immer auf ein absolutes Minimum und war<br />

oft in einem Nachsatz enthalten wie: „Die Frauen springen nicht mehr. Wahrscheinlich<br />

haben sie Angst vor dem Tod“ oder „Jetzt sind wir schlauer geworden<br />

236 Die Rede ist hier von einer hin/issin roro - einer Frau, die immer wieder wegläuft.<br />

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