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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Gol als Ritual? Versuche zur Ritualtheorie<br />

werden dadurch zu „Zentren des Heiligen“, zu „Ursprungsorten“, zu unversiegbaren<br />

„Quellen der Macht“. In ihrer Nähe können die verschiedenen ontologischen<br />

Ebenen durchbrochen werden. Die Besonderheit der Zeit verweist dabei<br />

auf die „heilige, uranfänglische Zeit“, die Besonderheit des Ortes deutet auf das<br />

Vorhandensein eines „archetypischen Raumes“ hin. Der Mensch trägt im Ritus<br />

seiner Sehnsucht, seinem „Heimweh“ nach den transzendenten Formen der uranfänglichen<br />

Zeit Rechnung, indem er den Mythos in den verschiedenen Riten<br />

und Ritualsystemen wiederauferstehen läßt. Mit Hilfe des Ritus soll der ontologische<br />

Bruch zwischen Heiligem und Profanem überwunden und die profane<br />

Lebenswirklichkeit des „homo religiosus“ zur „großen, uranfänglichen Zeit“ hin<br />

aufgebrochen werden. Durch den Ritus wird eine periodische Einfügung in diese<br />

Zeit möglich (vgl. Eliade 1990: 63ff). Man könnte sagen, daß der Mensch und<br />

seine durch sein „Sein in der Zeit“ bedingte Profanität im Vollzug des Ritus abstirbt<br />

und auf magisch symbolische Weise in den Ursprung (illud tempus) zurückversetzt<br />

wird: Der Mensch wird aufs neue „Zeitgenosse der Götter und der<br />

Schöpfung“. Die Zeit „vor dem Fall in die Geschichte“ wird wiederhergestellt.<br />

Das Ritual ist also ein Versuch der Reintegration in jene Zeit und besteht vornehmlich<br />

in der genauen Wiederholung und Nachahmung der in den Mythen<br />

gegebenen Uroffenbarungen und Vorbilder.<br />

Auf der anderen Seite wird die Durchführung von Ritualen als kulturell geprägte<br />

und daher unendlich wandelbare soziale Strategie begriffen, die letztlich der Bestätigung<br />

von Ordnung und damit der Weltdeutung dient, aber mit dem Mythos<br />

nicht zwingend in Zusammenhang steht. Über die Frage, welches die wichtigsten<br />

Motive bei der „Erfindung“ bzw. „Entstehung“ von Ritualen und Mythen<br />

sind, herrscht keine Einigkeit. Hier reicht die Bandbreite der Überlegungen von<br />

psychologischen (Durkheim 1912, Freud 1968ff.) über intellektualistische (Frazer<br />

1924), funktionalistische bzw. kulturmaterialistische (Malinowski 1925;<br />

1926; 1960; Harris 1988) bis hin zu strukturalistischen Thesen (Lévi-Strauss<br />

1958; 1976ff). Gegen die These der unbedingten Bezogenheit von Mythos und<br />

Kultus aufeinander plädiert u.a. der Ägyptologe Jan Assmann. In Ägypten seien<br />

priesterliche Kulthandlungen das für den Fortbestand des Staates ausschlaggebende<br />

Moment gewesen; Mythen sind oft wohl erst später zur Erklärung der<br />

Kulthandlungen gleichsam nachgereicht worden. Nach Assmann wird das Ritual<br />

durch einen Text konstituiert, der vom Mythos durchaus als losgelöst betrachtet<br />

werden kann (Assmann 1991). In gewisser Weise nimmt Claude Lévi-Strauss<br />

auch hier wieder eine Sonderstellung ein, hat er doch die These vertreten, daß<br />

das Ritual nicht immer eine genau parallele Darstellung des mythischen Urzeitgeschehens<br />

bei ein und derselben Ethnie sein muß, sondern daß sich beide Elemente<br />

oft erst in größeren regionalen Zusammenhängen ergänzen (Lévi-Strauss<br />

1976). Daß es diese Zusammenhänge gibt, steht für ihn allerdings außer Frage<br />

und war letztlich für die Entstehung des Strukturalismus konstituierend (vgl.<br />

Oppitz 1992).<br />

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