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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Funktionen des gol. Versuch einer Analyse<br />

beginn, zu einer Zeit der „Erneuerung des Kosmos“, so könnte man argumentieren,<br />

treten schließlich weltweit auf, warum dann nicht auch hier? 289 Das Problem<br />

scheint mir zu sein, daß sich eine solche Einschätzung des gol nicht, oder bestenfalls<br />

nur sehr bedingt, mit der Symbolik der „zweiten Geburt“ vereinbaren<br />

läßt, die wir in so vielen anderen Institutionen der Sa finden. Aus diesen Gründen<br />

halte ich es eher für wahrscheinlich, daß es sich bei dieser Interpretation um<br />

eine erst nach der Christianisierung entwickelt Adaption judäochristlicher Vorstellungen<br />

von „Schuld“ und „Sühne“ bzw. „Vergebung“ handelt. Da ich jedoch<br />

mit den entsprechenden indigenen Konzepten der Sa noch zu wenig vertraut bin,<br />

kann ich mir hier ein endgültiges Urteil nicht erlauben.<br />

19.2 Gol als Ventilsitte?<br />

Eine weitere mögliche funktionale Dimension des gol könnte in seiner Bedeutung<br />

als „Ventilsitte“ bestehen. 290 Es sollte deutlich geworden sein, daß das<br />

Turmspringen in mancherlei Hinsicht den ansonsten üblichen sozialen Geltungen<br />

entgegenläuft, etwa indem der Einzelne ein Maß an Entscheidungsfreiheit<br />

genießt, das ihm in anderen Bereichen der Gesellschaft, die wesentlich stärker<br />

reglementiert sind, verwehrt bleibt. So können, ganz im Gegensatz etwa zum<br />

warsangul System, schon sehr junge Männer, wenn sie es wollen, von sehr weit<br />

oben im Turm springen. Andererseits wird man sagen müssen, daß wir es beim<br />

Turmspringen nicht mit einer ausgesprochenen Umkehrung der sozialen Normen<br />

zu tun haben, wie wir sie etwa beim Fasching bzw. Karneval oder bei Saturnalien<br />

usw. beobachten können. Als sicher kann hingegen die grundsätzliche<br />

Feststellung gelten, daß im gol diejenigen „heißen“ Kräfte freigesetzt werden<br />

können, die der Gesellschaft ansonsten, zumindest in Friedenszeiten, durchaus<br />

Schaden zufügen können. Beim Turmspringen haben Jungen und Männer einen<br />

Freiraum, in dem sie unbehelligt „Dampf ablassen“, ihre Stärke zeigen bzw. ihr<br />

„Mütchen kühlen“ können, um sich dann anschließend möglicherweise wieder<br />

leichter in ihre täglichen Routinen einzufügen (vgl. Bell 1997). Eine solche<br />

Funktionszuweisung klingt durchaus schlüssig, wirft aber wieder die Frage auf,<br />

wo, zwischen Spiel und Ritual, man das gol eigentlich verorten muß, denn betrachtet<br />

man das gol als Ventilsitte, wäre damit ja doch ein funktionaler Rückbezug<br />

zu anderen gesellschaftlichen Institutionen feststellbar.<br />

289 Denken wir nur an die Vertreibung der „bösen Geister“ mit Lärm zu Jahresende und -<br />

anfang überall in Mitteleuropa oder Asien. Zur Sonnenwende entfachten Kelten und Germanen<br />

große, reinigende Feuer usw. usf.<br />

290 Der Begriff „Ventilsitte“ wurde von Richard Thurnwald (vgl. z.B. 1953) geprägt und fand<br />

schnell Eingang in den begrifflichen Kanon der Sozialwissenschaften<br />

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