VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

Funktionen des gol. Versuch einer Analyse
19.3 Gol zur Friedensstiftung bzw. -sicherung und Brautschau
Das gol ist, im Gegensatz zu allen anderen wichtigen Ritualen im traditionellen
Veranstaltungskalender der Sa, die einzige Veranstaltung, die eine regionale Relevanz
besitzen kann. Warsangul Rituale finden auf dörflicher Ebene oder bestenfalls
im lokalen Verbund von zwei oder drei, eng benachbarten Dörfern
statt. Dies liegt schon daran, daß der Initiand seinen Mentor unter denjenigen
Männern findet, mit denen er ohnehin bereits nähere Beziehungen pflegt. Das
aber ist, heute wie früher, nur auf dörflicher oder bestenfalls auf lokaler Ebene
möglich. Warsangul Rituale waren und sind zweifellos Ereignisse von hoher
sozialer Relevanz, aber sie dürften nur in sehr seltenen Fällen, etwa wenn ein
Mann einen der letzten bedeutenden Titel erwerben will, regionale Bedeutung
erlangt haben. Gleiches gilt für juban oder taltabwean, die ebenfalls innerhalb
der Dorfgemeinschaft von großer Wichtigkeit sind, darüber hinaus aber nicht
auf allzu großes Interesse stoßen. Zu einem besonderen gol hingegen kommen
stets Verwandte und Freunde, aber auch Fremde, aus allen Teilen des Sa Gebietes
zusammen. Wenn man sich vor Augen hält, wie erbittert noch in den 1910er
und 20er Jahren Konflikte auf lokaler und regionaler Ebene ausgefochten wurden
(vgl. Kap. 6.2), versteht man die Bedeutung einer Veranstaltung, deren Anziehungs-
und Integrationskraft so groß ist, daß man bestehende Konflikte temporär
ruhen läßt oder sogar gänzlich beilegt. Denkt man an die jüngere Geschichte,
steht einem vor allem das gol zu Ehren von Queen Elizabeth im Jahre
1974 vor Augen, das ich in Kap. 14.2 ausführlich geschildert habe. Kein warsangul,
taltabwean oder juban Ritual hat je soviel überregionale Bedeutung erlangt,
als daß man heute noch mit vergleichbarer Intensität davon sprechen würde.
Es ist vielmehr dieses eine Turmspringen, das die Sa selbst als das einschneidendste
Ereignis in der jüngeren Geschichte ihrer Insel betrachten. Erstmals
nach vierzig Jahren kultureller Spaltung in kastom und skul taten sich 1974
wieder Männer aus allen Teilen von Südostpentecost zusammen, um gemeinsam
ein gol auszurichten. Die übereinstimmende Meinung vieler, unabhängig voneinander
befragter Informanten war stets die, daß nach dem gol des Jahres 1974,
trotz aller nach wie vor bestehenden Gegensätze zwischen kastom und skul, der
Weg zu besseren Beziehungen zueinander frei wurde. Dasselbe kann für das
Turmspringen gesagt werden, das im Jahre 2004 für das P&O Kreuzfahrtschiff
„MS Pacific Sky“ veranstaltet wurde, und bei dem wiederum über tausend Sa
aus allen Teilen der Insel zusammenkamen. Aber auch auf lokaler Ebene ist
m.E. eindeutig eine friedensstiftende Funktion der Veranstaltung festzustellen.
Im Jahre 2002 erschienen anläßlich des zweiten Turmspringens diesen Jahres
mehrere hundert Besucher aus ganz Südpentecost in Bunlap, darunter auch mehrere
Dutzend Männer aus dem benachbarten Ranwas, mit denen zu dieser Zeit
ein immer noch ungeklärter Konflikt um Landrechte schwelte, der kurz nach
dem gol übrigens wieder aufbrach. Während des gol jedoch trat der Konflikt in
den Hintergrund: Männer und Frauen aus Ranwas feierten, erstmals seit einigen
Jahren, wieder mit den Leuten aus Bunlap und anderen kastom Dörfern, die sie
ansonsten energisch bekämpfen. Anläßlich eines gol eröffnet sich also die Mög-
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