VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

Zur Entstehung von kastom als Lebensform & Ideologie
verschiedener melanesischer Inseln, Männer wie Frauen, angeworben und abtransportiert.
Teils werden sie praktisch gekidnappt, teils macht man ihnen überzogene
Versprechungen. Nur selten behandelt man sie so, wie man es ihnen zusagt.
Mitunter müssen sie viele Jahre für geringsten Lohn arbeiten. Manche kehren
niemals nachhause zurück. Einige bleiben aus freien Stücken in der Fremde,
weil sie dort ein neues Leben beginnen wollen. Andere sterben an unbekannten
Krankheiten, gegen die sie keine Abwehrkräfte besitzen. Manche können nicht
genug zusammensparen, um sich die Rückfahrt zu leisten. Wenn Vereinbarungen
tatsächlich eingehalten werden und die Arbeiter nach Ablauf ihres Kontraktes
zurückkehren heißt es häufig, die Kosten für den Rücktransport seien so
hoch, daß kein, oder nur noch ein weit geringerer Lohn ausbezahlt werden könne,
als ausgemacht (vgl. Price and Baker 1976). Die Zeit des „Blackbirding“ ist
in unzähligen Überlieferungen überall in Melanesien lebendig geblieben. Sie
sind mitverantwortlich für eine gewisse Skepsis, die man Weißen mitunter auch
heute noch entgegenbringt. Immer wieder hört man, gerade auch in den kastom
Dörfern, daß Europäer Leute sind, die „Menschen stehlen“. Daß es im Prozeß
der mündlichen Überlieferung zu Übertreibungen, Auslassungen und Bedeutungsverschiebungen
kommt, liegt dabei ebenso auf der Hand wie der Umstand,
daß derartige Geschichten in der Regel auf einem verifizierbaren historischen
Kern beruhen. Betrachten wir dazu ein Beispiel. Der amerikanische Ethnologe
Robert Lane schreibt im Jahr 1956 von der Begegnung mit einem seiner Sa Informanten,
der sich angeblich noch selbst an die erste Begegnung zwischen seinen
Leuten und einem europäischen Schiff erinnern kann. Setzt man das geschätzte
Alter des Informanten mit seiner Erzählung in Beziehung so ergibt sich,
daß diese sich gegen 1880 zugetragen haben muß:
„According to one of my oldest informants, the first ship came to the Southeast cost of Pentecost
when he was a small boy. It was a sailing ship. The people sighting it in the distance
thought that it was a great bird. When it came closer, they recognized it as a boat of some sort.
The ship hove to in Barrier Bay. The people were frightened and Raul a man from the nearby
village of Rerat, went down and tried to make the landing beach and the ship tabu. A boat
came ashore. Raul was seized and carried on board the ship. He was never seen again. Before
the boat’s crew withdrew it left a pile of stick tobacco on the beach. The natives had leaf tobacco
but they had never seen stick tobacco. They mistook the black gummy bars for pig
dung and were incensed by this supposed insult. As the ship sailed away, they fired arrows at
it. That this first ship came during the lifetime of a man still living is possible. The windward
coast was physically dangerous with unfriendly inhabitants and was, for the most part, inaccessible.
Few ships would have been attracted to such a shore. As a consequence the hill villages
escaped direct recruiting or kidnapping.“ (Lane 1956:44f)
Knapp zwanzig Jahre später, also etwa Mitte der 1970er Jahre, wird Margaret
Jolly dieselbe Geschichte berichtet. Ihr Informant, der zu diesem Zeitpunkt etwa
75-jährige Molga aus Pohurur, gibt an, die Begebenheit von seinem Vater gehört
zu haben. Beide Berichte weisen unübersehbare Ähnlichkeiten auf, allerdings
kehrt der „entführte“ Raul in Jollys Version nach etwa einem Jahr auf die Insel
zurück. Insgesamt dürften zwischen 1860 und 1906 etwa 1960 Kontraktarbeiter
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