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VORWORT DES HERAUSGEBERS - Thorolf Lipp

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Die wichtigsten Mythen der Sa<br />

halte die von ihm zur Publikation ausgewählten Geschichten dennoch für Mythen.<br />

Alle Texte begründen nämlich – oder begründeten noch zu Tattevins Zeit –<br />

warum die Welt so und nicht anders beschaffen ist. Ein geradezu archetypischer<br />

Kanon an Geschichten begegnet uns da: von der Schöpfung der ersten (männlichen)<br />

Menschen die Rede, von der Erschaffung der Frau durch Kastration eines<br />

Mannes, davon, wie der Tod in die Welt kam, wie Yams und Schweine, Sterne,<br />

Fische, Bäume oder Sonne und Mond entstanden sind. Die Geschichten begründen,<br />

allgemein gesprochen, warum die Welt ist, wie sie ist. Natürlich kennen die<br />

Sa auch andere Arten von Geschichten, eben Legenden, Sagen oder Märchen.<br />

Zwar sind die Grenzen fließend, entscheidend aber ist, daß die Menschen anders<br />

auf sie reagieren, nämlich indem sie Sagen, Legenden und Märchen in immer<br />

geringerem Maße für wahr halten. 62 Zu Tattevins Zeit war das wissenschaftliche<br />

Wissen um das Wesen des Mythos in keiner Weise vergleichbar mit dem breiten<br />

Fundament, das wir heute haben. Da erstaunt es umsomehr, wie treffend er in<br />

einem kurzen Vorwort Charakter und „Funktion“ dieser Geschichten beschreibt.<br />

Diese, so sagt er, seien überall in Südpentecost mehr oder weniger dieselben, oft<br />

würden sie sogar mit den gleichen Worten erzählt. Die beste Zeit für das Geschichtenerzählen<br />

sei die „stille Zeit“ nach den anstrengenden Wochen des<br />

Yamspflanzens. Damit die Yams nicht beim Wachsen gestört würde, dürfe niemand<br />

mehr Lärm machen und ohne Grund in den Gärten herumgehen. Daher<br />

bliebe man im Dorf und in den Hütten und erzähle Geschichten, die von den<br />

Babys, so meint er, bereits mit der Muttermilch aufgesaugt würden. Oft, so heißt<br />

es weiter, hätten die Geschichten nichts miteinander zu tun, ja sie widersprächen<br />

sich sogar – jedenfalls in den Augen von uns Europäern. Aber die Einheimischen<br />

störe das nicht. Sie seien insofern wie Kinder, als daß logische Zusammenhänge<br />

ihnen unwichtig seien. Entscheidend sei vielmehr, daß diese „légendes“<br />

überhaupt in abendlicher Runde erzählt würden und daß jedermann mit<br />

dem klassischen Kanon dieser Geschichten mehr oder weniger vertraut sei (Tattevin<br />

1929: 983f). Ob es die von Tattevin geschilderten „typischen Erzählsituationen“<br />

auch heute noch gibt – oder überhaupt jemals so gegeben hat – ist eine<br />

schwer zu beantwortende Frage. Ich selbst kann nur sagen, daß sie mir in vielen<br />

Monaten Feldforschung so praktisch nicht begegnet sind. 63 Das soll nun sicher<br />

nicht heißen, daß es sie niemals gegeben hat, ja noch nicht einmal, daß es sie<br />

heute nicht mehr gibt. Die Erfahrung meiner Feldforschung ist jedoch eindeutig<br />

die, daß derartig wichtige Mythen nicht beiläufig und öffentlich im Männerhaus<br />

62 Vgl. auch Kerenyi 1976 u. Malinowski 1926. Wir werden im Dritten Teil noch darauf zurückkommen,<br />

was den Mythos von anderen Erzählgattungen unterscheidet.<br />

63 Diese Beobachtung deckt sich mit derjenigen der australischen Ethnologin Mary Patterson,<br />

die in den 70er Jahren zeitgleich mit Margaret Jolly eine Feldforschung im benachbarten Ambrym<br />

durchgeführt hat. In einem Gespräch bestätigte sie mir, daß sie die „typischen“ Erzählsituationen,<br />

so, wie sie etwa Tattevin (1929), aber auch Malinowski (1926:11-45) und andere<br />

schildern, nicht erlebt hat.<br />

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