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Zwar sind wir hier auf Mutmaßungen angewiesen, doch muss angenommen
werden – und die Kriminalstatistik späterer Zeit beweist
diese These eindeutig – daß, wo die Gegensätze religiösen Ursprungs
waren, nicht materielle Motive für die Tat vorliegen können,
sondern nahezu ausschließlich ideelle.
Im Falle Kain müssen diese ideellen Motive sogar grundsätzlicher
Natur gewesen sein, gleichsam der Zwang zur Tat, die Notwendigkeit
einer niederen Handlungsweise, die durch ihre Beweggründe
eine ethisch-moralische Rechtfertigung erlangte.
Ist es auszuschließen und durch das provozierende Verhalten des
Abel nicht geradezu sicher, daß (und hier begann das Plädoyer des
Verteidigers in philosophisch – theologische Spekulationen überzugehen,
um die Tat Kains zu rechtfertigen) im Leben Abels ein entscheidendes
Erlebnis zu einer völligen Veränderung seines Wesens
führte. Waren die beiden Brüder schon äußerlich einander grundverschieden
(Kain von athletische Statur, aufbrausend und herrisch,
Abel dagegen zartgegliedert, empfindsam und grüblerisch), so zeigten
sie in ihrem Wesen und der Unterschiede, die schon in jungen
Jahren das Verhältnis der beiden belasteten.
(Dieser Teil des Plädoyers des Verteidigers war ein großangelegter
Versuch einer psycho–physiologischen Analyse, die auf das hindeutete,
was als das ‚Erlebnis des Abel metaphysisch auszulegen war.)
Das Plädoyer der Verteidigung erreichte mit der Schilderung des
‚Erlebnisses‘ Abels einen rhetorischen und geistigen Höhepunkt. Mit
wissenschaftlicher Gründlichkeit wurde der Nachweis erbracht, dass
‚Erlebnisse‘ dieser Art Menschen aller Zeiten auszeichneten. War
Abel einer dieser ‚Auserwählten‘, war die Auseinandersetzung um
die Tragödien der Dämmerstunde vor dem Opferstein das Ende
einer ausweglosen Situation, in die Kain gedrängt wurde durch seinen
Bruder?
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