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Edition Rechtsextremismus

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Uwe Böhnhardt<br />

217<br />

für die Persönlichkeitswerdung ist nicht der Tod an sich, sondern die subjektive<br />

Repräsentanz dieses Ereignisses. Da die Sinninterpretationskompetenz – d. h. die<br />

Fähigkeit, Ereignisse adäquat zu erfassen und zu deuten – von Uwe Böhnhardt<br />

im Alter von zehn, fast elf Jahren noch nicht vollständig ausgebildet ist, bedarf er<br />

der Deutungs- und Krisenlösungsunterstützung, vornehmlich seiner Eltern. Die<br />

ungeklärten Todesumstände, die eine vollständige Verarbeitung des Ereignisses<br />

innerhalb der Familie verhindern, lassen die Hypothese zu, dass der Tod nicht<br />

adäquat bewältigt wurde und dass die sozialisatorischen Interaktionsbedingungen<br />

spätestens ab diesem Zeitpunkt gestört sind.<br />

Die Eltern artikulieren den Tod heute als vermeintlichen Sturz ihres Sohnes<br />

von der Lobdeburg, einer Burgruine am Stadtrand Jenas. Auf ihr soll er mit Freunden<br />

umhergeklettert sein. Auch eine Fremdeinwirkung schließen sie nicht aus. Sie<br />

berichten gegenüber einer Zeitung, ihr Sohn sei mit vielfachen Knochenbrüchen<br />

und stark alkoholisiert aufgefunden worden. Freunde sollen ihn nach dem Sturz<br />

von der Lobdeburg nach Hause geschafft und vor ihrem Wohnhaus abgelegt haben.<br />

An der Artikulation des Ereignisses durch die Eltern erscheint zweifelhaft,<br />

wie und warum der im Sterben liegende Sohn durch seine Freunde transportiert<br />

wurde. Man muss sich nur einmal vorstellen, dass ein schwerstverletzter Jugendlicher<br />

– sagen wir mal, er wog 65-70 kg – durch seine Freunde mindestens einen<br />

halben Kilometer durch ein Wohngebiet getragen wurde, ohne dass sie irgendwer<br />

sah. Es war in der DDR auch nicht so, dass jeder 18-Jährige einen Pkw besaß, mit<br />

dem der Schwerverletzte hätte gefahren werden können. Ein Transport mit einem<br />

Moped erscheint nahezu unmöglich. Genauso unbeantwortet ist die Frage nach<br />

dem Motiv der Ortsverlagerung. Warum haben seine Freunde nicht anonym den<br />

Notarzt gerufen oder ihn in unmittelbarer Nähe zur Lobdeburg an eine gut einsehbare<br />

Stelle gelegt, wo er hätte gefunden werden können? Letztendlich ist eine<br />

empirisch fundierte abschließende Bewertung der Todesumstände nicht möglich,<br />

weil die polizeilichen Akten für die Analyse nicht zur Verfügung stehen, vermutlich<br />

existieren sie auch gar nicht mehr. Jedenfalls wäre es in der Kriminalgeschichte<br />

nicht der erste Fall, indem Angehörige versuchen, die wahren Todesumstände zu<br />

verheimlichen. Das kann aus den unterschiedlichsten Motiven geschehen: Scham,<br />

moralische Mitschuld oder nanzielle Motive – um nur einige zu nennen.<br />

Egal, ob die Eltern die wahren Todesumstände kannten oder ahnten oder ob die<br />

Todesumstände tatsächlich ungeklärt blieben, in jedem Fall wird die traumatische<br />

Verarbeitungskrise der Familie durch die Art und Weise des Todes verschärft. Der<br />

Hang des technokratischen Milieus zum Pragmatischen, durch den Vater vertreten,<br />

und die nahezu protestantische Ethik des bürgerlich-humanistischen Milieus,<br />

welches die Mutter verkörpert, offerieren den Eltern eine inadäquate Bewältigungsstrategie<br />

der Art „Augen zu und durch“. Sie werden mit starkem Engagement

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