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Krankheitseinsicht, dynamisch getestete Exekutivfunktionen und ...

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<strong>Krankheitseinsicht</strong><br />

Während die kontrovers diskutierte soziogenetische Labeling-Theorie von SCHEFF (1966)<br />

der Etikettierung eine wichtige Rolle in der Ätiologie psychischer Erkrankungen zuwies,<br />

rücken neuere Theorien die Bewältigung <strong>und</strong> Konsequenzen von Stigmatisierung (wieder)<br />

in den Mittelpunkt. Sie folgen dabei einem kognitiv-konstruktivistischen Ansatz: Relevant<br />

sind weniger die objektiven diskriminierenden Reaktionen der Umwelt, sondern die subjektiven<br />

Konzepte des Individuums über die Bedeutung des Etiketts <strong>und</strong> die zu erwartende<br />

soziale Abwertung <strong>und</strong> Benachteiligung. Die wichtigste neuere Theorie in diesem Bereich<br />

ist die Modifizierte Labeling-Theorie (MLT) von LINK, CULLEN, STRUENING, SHROUT <strong>und</strong><br />

DOHRENWEND (1989). Aufbauend auf SCHEFF (1966) beschreibt sie, wie Menschen die im<br />

Rahmen ihrer Sozialisation erworbenen negativen Konzepte von psychischer Erkrankung<br />

nach einer Etikettierung (Diagnose) gegen sich selbst wenden.<br />

Negative Konsequenzen der Stigmatisierung (z. B. reduzierter Selbstwert, Scham,<br />

Ausdünnung des sozialen Netzwerks) können nach der MLT sowohl direkte Effekte des<br />

Stigmas sein als auch durch inadaptive Coping-Reaktionen mediiert werden. LINK et al.<br />

(1989) nennen hierzu drei Formen der Stigma-Bewältigung: Geheimhaltung, sozialer<br />

Rückzug bzw. die Begrenzung der Interaktionen auf Eingeweihte <strong>und</strong> Betroffene <strong>und</strong><br />

Aufklärung anderer Menschen.<br />

Konzeptuell elaboriert wurde die Forschung zum Stigma psychischer Erkrankung v. a.<br />

durch CORRIGAN <strong>und</strong> Mitarbeiter (CORRIGAN & WATSON, 2002; CORRIGAN & RÜSCH, 2002;<br />

CORRIGAN, WATSON & BARR, 2006; WATSON, CORRIGAN, LARSON & SELLS, 2007): Um<br />

differentielle Reaktionen auf potenziell stigmatisierende Etiketten <strong>und</strong> spezifische Probleme<br />

(wie die Nicht-Inanspruchnahme von Behandlung) theoretisch erfassen zu können,<br />

wiesen sie in ihrem situativen Modell der persönlichen Reaktion auf die Bedeutung der<br />

Identifikation mit der stigmatisierten Gruppe <strong>und</strong> der wahrgenommenen Legitimität der<br />

Diskriminierung hin (CORRIGAN & WATSON, 2002). So lässt sich z. B. eine offensive<br />

Bewältigungsreaktion (Empörung über erlebte Stigmatisierung) aus hoher Identifikation<br />

mit der stigmatisierten Gruppe <strong>und</strong> niedriger subjektiver Berechtigung der Stigmatisierung<br />

vorhersagen (vgl. auch WILLIAMS, 2008).<br />

Die »Identifikation mit der Gruppe« dieser Forschungsrichtung darf allerdings weder<br />

mit der subjektiven Identität der Erkrankung im Sinne des Common-Sense-Modells noch<br />

mit <strong>Krankheitseinsicht</strong> i. e. S. gleichgesetzt werden, sondern besteht im Anschluss an<br />

JETTEN, SPEARS <strong>und</strong> MANSTEAD (1996) eher in einer Identifikation mit Krankenrolle <strong>und</strong><br />

Patientenpopulation. Das empirische Bild zur Rolle dieser »Identifikation« blieb bislang<br />

inkonsistent (WATSON et al., 2007).<br />

Die »Zwei-Faktoren-Theorie« (z. B. CORRIGAN & RÜSCH, 2002) unterscheidet ferner<br />

systematisch zwischen öffentlicher Stigmatisierung <strong>und</strong> Selbststigmatisierung, also der<br />

Veränderung des Selbstkonzepts im Einklang mit negativen Stereotypen. Damit es zur<br />

Selbststigmatisierung kommt, muss eine Person sich erstens der negativen öffentlichen<br />

Stereotype bewusst sein, diesen zweitens zustimmen <strong>und</strong> sie drittens auf sich selbst<br />

anwenden (stereotype awareness stereotype agreeement self-concurrence) – erst<br />

dann, so das Modell, leidet der Selbstwert (CORRIGAN et al., 2006). Abbildung 8 stellt die<br />

zentralen Annahmen der Gruppe um CORRIGAN vereinfacht dar.<br />

Die Identifikation mit der Gruppe der Erkrankten <strong>und</strong> eigene Vorurteile sollten den<br />

Umgang mit Diagnose <strong>und</strong> Behandlung beeinflussen: WILLIAMS (2008) formulierte eine<br />

Typologie möglicher »post-diagnostischer Identitäten«, die Individuen in Abhängigkeit von<br />

ihrer Stereotypen-Zustimmung (ST) <strong>und</strong> Identifikation (ID) mit der Gruppe der Menschen<br />

mit Schizophrenie-Diagnosen annehmen können. Er unterscheidet mit LALLY (1989)<br />

»Verschlungene« (ST[+]/ID[+]) mit Kranken-Identität, Rückzug in das Versorgungssystem

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