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JAHRESBERICHT 2000/2001 - Fritz Thyssen Stiftung

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31<br />

GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

ziehungen betreffen. Innerhalb der anglonormannisch-angevinischen<br />

Literatur begegnet man Fragen der Polygynie überall, von den<br />

beiden großen imaginären Königen, Arthur und Karl, bis hin zu den<br />

vielfältigen Aventuren der Ritter der Tafelrunde. Sie verkehren mit<br />

Frauen, die aus dem vertrauten Umfeld stammen – den „pucelles“<br />

der Burgen und Entouragen –, ebenso wie mit Frauen, die mehr oder<br />

minder eindeutig andersweltlich gekennzeichnet sind – den „sarrasines“<br />

und den „fées“. Der heute wahrscheinlich bekannteste Fall eines<br />

herrscherlichen Konkubinats im Mittelalter dürfte in der Geschichte<br />

der „Jüdin von Toledo“ dokumentiert sein. Erst der zunehmende<br />

Erfolg eines dieser Modelle, nämlich der prinzipiell alternativlosen,<br />

auf unbegrenzte Dauer angelegten Verbindung eines Mannes<br />

und einer Frau, wie es bis in unsere Zeit der Standard blieb, hat<br />

dazu geführt, alle übrigen Formen des „außerehelichen“ Zusammenlebens<br />

unter dem Begriff des „Konkubinats“ zu subsumieren<br />

und die ursprüngliche Vielfalt der Alternativen zu verdecken.<br />

Ziel des Forschungsprojektes ist es, die Pluralität der Praktiken und<br />

Imaginationen aristokratischer Verbindungsformen außerhalb der<br />

kirchlich bestätigten Ehe zu rekonstruieren. Dabei geht es einerseits<br />

darum, in den Quellen fassbare Fälle von Konkubinat zu kontextualisieren,<br />

sie auf die jeweilige Praxis zurückzuführen und sie gewissermaßen<br />

zu individualisieren; andererseits möchte man auch verstehen,<br />

was im Einzelfall die Männer, die sich mit ihren „Konkubinen“<br />

zeigen, bezwecken oder zum Ausdruck bringen wollen und in<br />

welcher Vorstellungswelt dies geschieht. Aus der Durchsicht der<br />

Forschung sowie der ersten Sichtung der Quellen ergeben sich dazu<br />

einige Hinweise zu eventuell kategorisierbaren Aspekten. So betont<br />

die neuere sozialanthropologisch orientierte Forschung vor allem<br />

den „generalen Aspekt“, die in der Polygynie gegebenen erweiterten<br />

Möglichkeiten, sozial akzeptable Erben zu zeugen. Daneben sehen<br />

geschlechtergeschichtlich orientierte Forscher in polygynen<br />

Praktiken Möglichkeiten für die Stilisierung von Maskulinität. Neue<br />

Sichtweisen könnten sich ergeben, wenn man den „symbolischen“<br />

Aspekt der Polygenie betrachtet. Denn die Aneignung von Land, Besitz,<br />

Herrschaft geht in der literarischen Imagination und allem Anschein<br />

nach in der konkreten Praxis häufig einher mit der Aneignung<br />

von Frauen, die in einer bestimmten Beziehung zum fraglichen Land,<br />

dem Besitz, der Herrschaft stehen (z. B. Raubzüge der Wikinger in<br />

angelsächsischen Nonnenklöstern).<br />

Untersuchungsgegenstand sind drei ausgewählte Regionen, deren<br />

eine – die Länder um den Ärmelkanal – im Zentrum dessen liegen,<br />

was heute meist als „das“ okzidentale Mittelalter (Flandern, Normandie,<br />

„Grand Anjou“, England) aufgefasst wird, während die beiden<br />

anderen – Skandinavien und der Nordwesten des Mittelmeerbeckens<br />

– als Peripherie erscheinen und somit transkulturelle Perspektiven<br />

ermöglichen. Die Festlegung soll sowohl der europäischen<br />

Pluralität Rechnung tragen und den Gefahren eines impliziten „Latinozentrismus“<br />

vorbeugen als auch vor dem Hintergrund transkultu-

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