12.12.2012 Aufrufe

JAHRESBERICHT 2000/2001 - Fritz Thyssen Stiftung

JAHRESBERICHT 2000/2001 - Fritz Thyssen Stiftung

JAHRESBERICHT 2000/2001 - Fritz Thyssen Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

71<br />

GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

führten daraufhin Reformen durch (1839–1878), die unter dem Namen<br />

„Tansimat“ (türkisch: „Umorganisation“) bekannt wurden. Umfangreiche<br />

Bauvorhaben zur Modernisierung der Infrastruktur des<br />

Reiches wurden in Angriff genommen, neue Städte, Straßen, Eisenbahnen<br />

und Telegraphenlinien entstanden. Die Dekrete von 1839<br />

und 1856, die den osmanischen Staat dazu verpflichteten, Leben,<br />

Freiheit, Toleranz und Sicherheit zu garantieren, initiierten auch einen<br />

öffentlichen Diskurs über das Verhältnis von Individuum und<br />

Staat.<br />

Vor diesem Hintergrund entwickelten nach dem Bürgerkrieg im Libanongebirge<br />

und in Damaskus (1860) zahlreiche Intellektuelle<br />

(Muslime wie Christen) in der Levante und den syrischen Gebieten<br />

des Osmanischen Reiches neue soziologische Konzeptionen einer<br />

harmonischen, säkularen, zukunftsgerechten Gesellschaft, die sich<br />

gegen die negative Wahrnehmung fragmentierter konfessioneller<br />

Gemeinschaften absetzten. Der Diskurs der „Renaissance“ orientierte<br />

sich dabei an einem modernistischen Kulturbegriff, der sich in<br />

erster Linie mit der neuen Urbanität identifizierte. Die Stadt galt als<br />

Inbegriff der modernen Welt und als Manifestation eines neuen, besseren<br />

Zeitalters. Diese Art eines lokal-universellen Epochalismus<br />

diente den neuen intellektuellen Eliten in Istanbul, Damaskus, Beirut<br />

und Cairo zur Formulierung reformerischer und säkularer Gesellschaftsvisionen.<br />

Damit kreierte dieser Diskurs aber auch neue Formen der gesellschaftlichen<br />

Marginalisierung derer, die – in den Augen der literarisch-gesellschaftlichen<br />

Avantgarde – sich der unausweichlichen<br />

Modernisierung widersetzen und dadurch das ideelle Projekt der<br />

„Auto-Emanzipation“ gefährdeten. Der Kulturbegriff der osmanischarabischen<br />

Intellektuellen im Neunzehnten Jahrhundert war<br />

zunächst elitär-progressiv in seiner Abgrenzung vom lokalen Klerus<br />

und von den Feudalstrukturen, ohne allerdings von einer allgemeinen<br />

Befreiungsideologie geleitet zu werden. Die Gedanken waren<br />

vielmehr von der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Moral<br />

geprägt, die eine Alternative zur alten, auf Pietät und konfessionelle<br />

Loyalität basierende Gesellschaftsordnung darstellen sollte.<br />

Ziel des Vorhabens ist es, die bisher in der Historiographie des Neunzehnten<br />

Jahrhunderts dominierenden Perspektiven, entweder Verwestlichung<br />

oder (Proto-) Nationalismen als bedeutungsvolle Antriebsfedern<br />

des arabischen Geisteslebens anzusehen, zu relativieren,<br />

die kulturgeschichtliche und soziologische Dimension der arabischen<br />

Nahda aufzuhellen sowie die Einbettung in das moderne arabische<br />

(und im weiteren Sinne osmanische) Denken systematisch zu<br />

untersuchen.<br />

Dabei soll u. a. geklärt werden<br />

– inwieweit der geistige Transformationsprozess während der<br />

Nahda als Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse des Bürgerkrieges<br />

im Libanongebirge und in Damaskus 1860 zu beziehen ist,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!