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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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NACH DEN APO-JAHREN - NUN BÜFFELN SIE WIEDER -<br />

DER EINZELNE KANN HIER KAPUTT GEHEN<br />

Kampf um Reformen, Kampf für eine neue Gesellschaft, für Gerechtigkeit und<br />

Chancengleichheit - das war gestern. Studieren in den siebziger Jahren an den deutschen<br />

Universitäten, das heißt: Kampf um den Platz im Hörsaal, Geldverdienen, weil die<br />

Studienbeihilfe - BAföG genannt -nicht reicht, Zittern um Zensuren, Angst vor Examen,<br />

vor den schlechten Berufsaussichten vielerorts. Denn es gibt zu viele Studenten.<br />

stern, Hamburg 05. Dezember 1974<br />

Seit drei Jahren lebt der Psychologiestudent Jochen Hahne in Zimmer 2223 des Gustav-<br />

Radbruch-Hauses, dem Hamburger Studentenheim der Arbeiterwohlfahrt. Wenn der 26jährige<br />

Beamtensohn aus Dortmund sich mitten in seine Bude hockt, kann er mit den Armen Bett,<br />

Schreibtisch und Bücherbord erreichen. Will Jochen Hahne vom Flur aus telefonieren, meldet er<br />

sich bei der Zentrale nicht mit Namen. Er sagt seine Nummer 2223. Jeder im Gustav-Radbruch-<br />

Haus hat seine Identifikationszahl. Er ist eine Nummer. Wenn ein Kommilitone Hahne besuchen<br />

will und beim Empfang nach Hahne fragt, zuckt der Pförtner nur die Achsel. Erst wer nach<br />

Nummer 2223 fragt, erhält die Antwort: "Dritter Stock, vierte Tür links."<br />

Fast jede Woche bekommt Jochen Hahne in Zimmer 2223 den berüchtigten<br />

"Heimkoller". Dann will er seine Bücher in die Ecke knallen, das Studium abbrechen und sich<br />

einen Job suchen. Doch immer fügt er sich: Als Examenskandidat im 14. Semester muss er noch<br />

ein Jahr für die Diplomarbeit pauken. Er bleibt an seine 10 Quadratmeter kleine Bude gekettet, in<br />

die er keine Ordnung bringt. Dicke Schwarten liegen kreuz und quer herum, Zigarettenkippen<br />

quellen aus den Aschenbechern, klebrige Teetassen stehen auf dem Tisch. Wenn Nummer 2223<br />

über die Türschwelle tritt, steht er auf einem vierzig Meter langen und 1,20 Meter breiten Flur. Die<br />

Wände sind blau oder weiß getüncht. 36 Buden sind auf jedem Flur aneinandergereiht. Das Haus<br />

ist zwölf Etagen hoch. - Lernfabrik.<br />

"Der Einzelne", sagt Hahne, "kann hier kaputtgehen, ohne dass irgendjemand es<br />

registriert. Hier kümmert sich keiner um den anderen." In solch einem Klima dieser Jahre entstand<br />

der studentische Sponti-Spruch: "Ich gehe kaputt, gehst du mit?" Die 23jährige Politikstudentin<br />

Christiane Berndt vom selben Stockwerk berichtet: "Diese Isolation ist unerträglich. Es ist die<br />

gemeinsam erlebte Einsamkeit. Viele fangen an zu saufen oder nehmen Tabletten. Immer wieder<br />

gibt's nachts Schlägereien. Manchmal sind die Leute so aggressiv, dass sie mit Flaschen aufeinander<br />

einschlagen."<br />

In der Uni heißt das Gustav-Radbruch-Haus "Studenten-Silo". Wie viele Hochschüler in<br />

der größten Studentenherberge der Bundesrepublik wohnen, weiß niemand genau. "Für 503 ist ein<br />

Zimmer da. Aber es können 700 oder 800 Leute hier leben. Niemand kann das kontrollieren", sagt<br />

Hausverwalter Söhnke Hansen. Krawalle im Heim steht Hansen ratlos gegenüber. "Was soll ich<br />

machen? Ich habe bisher kaum die Polizei geholt. Sie kann die Konflikte auch nicht lösen. Das<br />

Problem ist die Vermassung der Uni. Kaum jemand kennt den anderen. Das schafft Aggressionen."<br />

Im Wintersemester 1974/75 sind an Hochschulen der Bundesrepublik 780.000 Studenten<br />

immatrikuliert - 50 Prozent mehr <strong>als</strong> 1970 und 170 Prozent mehr <strong>als</strong> 1960. "Der Andrang und die<br />

Zulassungsbeschränkungen", berichtet die Hamburger Studenten-Beraterin Ursula Lindig, "haben<br />

die Einstellung der 18jährigen zum Studium und das Klima an den Hochschulen total verändert."<br />

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