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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Doch alle wussten um den schmalen Grad, auf dem sie sich bewegten. Und alle hatten<br />

auch ein wenig "Angst vor dem Sprung in den neuen Lebenszusammenhang". Denn wann und wo<br />

lassen sich eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und<br />

tatsächlich neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Gruppennorm, wo<br />

beginnt die befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose und wann sagt man, ja endlich,<br />

das ist die neue Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern<br />

selbstbestimmt, inwieweit muss man sich noch kapitalistischen Marktzwängen unterordnen?<br />

Fragen, auf die alle Kommune-Mitglieder Antworten finden mussten, wollten sie sich<br />

nicht zu bloßen Wald- und Wiesenexistenzen degradieren, bei denen zwar kein Schuldirektor und<br />

keine Kultusbürokraten, sondern dafür Hofschrate das Sagen haben. Eines war allen so ziemlich<br />

klar. Ein Ausstieg verheißt noch lange keinen neuen Einstieg. Keiner wusste, ob sie nicht schon<br />

nach einem Jahre zerrüttet und zerstritten vor einem Scherbenhaufen stehen. Viel hatten sie von<br />

anderen Landkommunen gehört, die sie auch teilweise besuchten - von deren Zerbrechlichkeit, von<br />

dem ständigen Kommen und Gehen, von den überspannten Erwartungen des Alles oder Nichts,<br />

von Landkommunen, die mehr ihren Zweck <strong>als</strong> Zwischenstation auf dem Weg ins transzendentale<br />

Indien erfüllten, von menschlichen Enttäuschungen, angesiedelt zwischen sexuellen<br />

Befreiungswünschen bei gleichzeitig tief verinnerlichtem Besitzdenken, manche kapitulierten auch<br />

vor der harten körperlichen Arbeit oder der Einsamkeit, andere klagten über den radikalen<br />

Konsumverzicht, Gebrauchsgüter, die in der Stadt so niedrig eingeschätzt wurden und nun auf<br />

einmal doch zu fehlen scheinen.<br />

Erich, Irene, Hilde und Volker machten etwas Vernünftiges. Sie fuhren Monate durch die<br />

USA, klapperten eine Landkommune nach der anderen ab. Sie wollten lernen, Erfahrungen<br />

sammeln und Rückschlüsse ziehen, den immerhin gibt es seit Ende der sechziger Jahre an die 2.000<br />

Landkommunen-Projekte in den Vereinigten Staaten. Sie sahen Kollektive , die in ihrer Rigidität<br />

und Radikalität nicht zu bremsen waren. "Der Kampf gegen die Scheiße in uns ist ein Teil des<br />

Aufbaus einer neuen Gesellschaft", hieß es da. Und ihre eigene Scheiße bezog sich keineswegs nur<br />

auf äußere Begleiterscheinungen wie politische Unterdrückung oder Rassismus. Sie meinten damit<br />

vielmehr den persönlichen Besitz an Gebrauchs-und Konsumgütern, denen gleichfalls Liebe,<br />

Sexualität, eben die ganze Privatsphäre zugeordnet wurden. Als Idealzustand galt, wenn jedes<br />

Bedürfnis eines Kommune-Mitglieds, ob es ein Buch lesen will, einen Spaziergang macht oder sich<br />

einfach für eine gewisse Zeit zurückziehen möchte, durch Gruppendiskussion geregelt wird. Wer<br />

der Gruppe eine derart herausragende Vormachtstellung zuerkennt, der muss zwangsläufig jede Art<br />

von Zweier-Beziehung bekämpfen. Der muss natürlich Monogamie <strong>als</strong> störend empfinden, weil<br />

sich die jeweiligen Partner in erster Linie auf sich und nicht auf die Gruppe beziehen. Deshalb<br />

wurde in vielen Landkommunen auch folgerichtig das "Pärchen-Unwesen" zerschlagen, um für die<br />

anderen ohne Schuldgefühle offen zu sein - und zwar politisch, persönlich und sexuell.<br />

Natürlich beobachteten die vier instabile Gruppen, die völlig ausgeflippt waren, denen<br />

jedes Selbstverständnis für alternative Lebensformen fehlte, obwohl sie in der Land-Szene<br />

herumhingen. Typen, die in Plastik-Hütten hausten, zwischen Autowracks und lebenslustigen<br />

Ratten, ohne Wasser und Strom. Herumstreunende Jugendliche aus den Großstädten, oft<br />

vollgekifft und abgefüllt, die sich in den Landkommunen auspennen und durchfressen konnten, bis<br />

sie irgendwann weiterzogen. Mütter, die teilweise nicht wussten, von welchem Mann ihr Kind kam,<br />

aber mit ihrem zwölfjährigen Sohn den Beischlaf probierten, damit der Junge nicht unnötig unter<br />

dem Ödipus-Komplex zu leiden habe. Natürlich gab es auch Landkommunen, die nach<br />

schwierigen Anläufen recht gut funktionierten und wo man glaubte, sich Stein für Stein seinen<br />

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