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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Vorzeitige Schulabgänger, Studenten, Jugendliche, die nur gelegentlich jobben, Arbeitslose<br />

- das ist der Stamm der 40 Dauerbewohner. Hier dreht es sich kaum um alternative Lebensformen,<br />

auch nicht um die dienstbeflissene politische Feinabstimmung, hier wird Widerstand praktiziert.<br />

Pfarrer Wulf Boller aus dem Örtchen Walldorf ließ bei einer kleineren Holzfälleraktion<br />

vorsichtshalber schon einmal seine evangelischen Glocken bimmeln. "Wir handelten wie im<br />

Bauernkrieg", erklärte Pfarrer Boller, "ein kirchliches Zeichen in einer revolutionären Situation, in<br />

der alle gegen einen übermächtigen Gegner zusammenstehen müssen." Der 21jährige Alexander,<br />

eín ehemaliger Theologie-Student, hockt vor der provisorischen Holzkapelle, die für ökonomische<br />

Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene<br />

und zugleich doch sehr gespannte Atmosphäre durchdringt das Besetzerdorf, so, <strong>als</strong> ob es<br />

zwischen technologischen Fortschritt und der Rückbesinnung auf die Urwüchsigkeit, die<br />

Bewahrung der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. - In Minuten-Abständen dröhnen<br />

überm Dorf im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landebahn entgegen.<br />

"Wussten Sie, dass Frankfurt menschlich gesehen heute Vorbild ist?" tönte es einst in der<br />

Hauspostille des Oberbürgermeisters Walter Wallmann -einer anheimelnden<br />

Informationsbroschüre mit feinstem "Corporate Design", ein Glanzpapier, das mit 230.000<br />

Exemplaren den Weltstadt-Habitus heraus posaunt. "Nirgendwo in Europa können Sie so gut<br />

Geschäfte machen wie in Frankfurt", empfahlen sich die Rathaus-Herren auf dem englischsprechenden<br />

Markt.<br />

Die zerrissenen, grau belegten Zustände von ehedem, die kaum zufälligen Parallelen mit<br />

den Kloaken von New York, Liverpool und Berlin, dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> Frankfurt in der Beliebtheitsskala<br />

mit Wanne-Eickel konkurrierte - all das scheint ignorant verdrängte Vergangenheit. Der<br />

Schriftsteller Ernst Herhaus (Kapitulation, Aufgang einer Krankheit, 1977) ein Chronist<br />

verflossener Tage, skizzierte "Frankfurt <strong>als</strong> ein Paradies und Canossa des Denkens, eine Symbiose<br />

aus Raubritterei, Schwerstarbeit und skrupelloser Theorie, berühmt durch den Ungehorsam und<br />

seinen Pessimismus, entschlossener <strong>als</strong> je zuvor, dem Rest seiner Zukunft abzutrotzen ...". Und<br />

Herhaus-Kollege Gerhard Zwerenz, der mit dem Rücken zur Stadt lebt, fürchtet, "dass auf die<br />

besinnungslose Ausbautätigkeit der sozialdemokratischen Stadt Frankfurt nun ein Rückschlag<br />

erfolgt, und dieser Rückschlag versucht, alte, überholte Strukturen wieder herzustellen. Wenn das<br />

gelingt, wird es sehr teuer werden, zweitens wird man damit Klassenstrukturen, die mit der<br />

demokratischen Grundordnung nicht übereinstimmen, auch restaurieren müssen. Davon<br />

abgesehen, fürchte ich, dass sich neue Konfliktfelder auftun, von denen die Baumeister des neuen<br />

restaurativen Frankfurts sich noch keine Vorstellung machen".<br />

"Nein, nein", sagt der Oberbürgermeister. "Ach, Sie können Ihren Notizblock einmal<br />

beiseite legen." Eine Stadt, in der die höchsten Umsätze, Gewinne und Steuererträge erwirtschaftet<br />

werden. Eine Stadt, die zur internationalen Drehscheibe für Waren und Güter avancierte. "Nein",<br />

erklärt Wolfram Brück, "die Stadt ist immer Kultur-träger gewesen, die Stadt ist Freiheit, die Stadt<br />

bedeutet Kultur, die Stadt ist westliche Zivilisation und Rationalität. Die Stadt heißt auch<br />

permanenter intellektueller Konflikt. Wer Stadt entwickeln wollte im Sinne von Disneyland, der irrt<br />

sich. Stadtluft macht frei, und hier in Deutschland steht Frankfurt in der allerersten Reihe der<br />

bürgerlichen Städte mit einer Freiheitsgewährung, die draußen auf dem Land nie hätte errungen<br />

werden können."<br />

Harmoniebeseelte Künstlichkeit, verkrampfte Anstrengungen nach neudeutscher<br />

Wohligkeit prägen trotz solcher kalenderreifen Lippenbekenntnisse die Rathaus-Herren und ihre<br />

emsigen Plakat-Schausteller. Schließlich darf sich die Frankfurter Zeil berühmteste und<br />

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