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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Streichhölzern, bis die Finger schmerzen , Frierenlassen - erfrorene Gliedmaßen sind bei<br />

misshandelten Kindern sehr häufig - Tauchen in eiskaltes Wasser bis zum Tod durch Erschöpfung<br />

oder Ertrinken, Liegenlassen in Kot, Urin und vieles mehr."<br />

Erfahrungen aus Westberlin in den siebziger Jahren zeigten allerdings, dass eine wirksame<br />

Vorbeugung gegen Gewalt-Exzesse in Familien, an Schulen, an Frauen und Kindern<br />

erfolgsversprechend ist. Es war der Alleingang der Berliner Senatorin Ilse Reichel (*1925+1993;<br />

1971-1981), zuständig für Familie, Jugend und Sport, die das erste Haus in der Bundesrepublik für<br />

geschlagene Frauen und verprügelte Kinder eröffnete. Wie kein anderes Mitglied im Berliner SPD-<br />

Senat unterstützte und finanzierte Ilse Reichel hilflose Frauen, Eltern-Kind-Gruppen,<br />

Kindertagesstätten, Abenteuerspielplätze. Dabei ließ sich Ilse Reichel zentral von einem<br />

Grundgedanken leiten: Gewaltausbrüche im Vorfeld durch alternative Aufgaben, auch<br />

Freizeitangebote zu verhindern.<br />

In besagten Reichel-Jahren, die nachweislich kinderfreundlichsten, die die Hauptstadt je<br />

erleben konnte, war jedenfalls nach Feststellungen der Berliner Kriminalpolizei eine Zunahme der<br />

Verfahren bei Kindesmisshandlungen um 300 Prozent zu verzeichnen. Aus diesem Anstieg kann<br />

jedoch keine verfehlte Senatspolitik noch ein Mangel an erzieherischen Fähigkeiten der Pädagogen<br />

oder Sozialarbeiterinnen abgeleitet werden. Sie sind das offene Ergebnis einer frauen- und<br />

kinderfreundlichen Politik - die in eine angstfreie Atmosphäre ausstrahlte, in der sich<br />

geschwundene Frauen, auch lädierte Jugendliche erstm<strong>als</strong> zur Polizei wagten - Anzeige erstatteten.<br />

Gleichwohl wird das sozialpsychologische Klima - somit die zwischenmenschliche<br />

Atmosphäre zwischen Flensburg und Basel eher markiert durch eine undurchlässige Mauer des<br />

gefühllosen Schweigens <strong>als</strong> durch solidarische Anteilnahme. Es sind Berührungsängste,<br />

Abgrenzungs-, Distanzierungs- versuche von denen da unten ... ... Mitgefühl ja schön und gut,<br />

wenn es um Notopfer-Spenden auf fernen Kontinenten geht, aber bitte schön doch wohl nicht,<br />

wenn sich Nachbarn die "Köppe einschlagen". Regierungsdirektor Walter Becker, Vorsitzender des<br />

Deutschen Kinderschutzbundes (1969-1972), zeigt auf die zerbrechliche Achillesferse seines<br />

Engagements. Er sagt: "Menschen schauen sich aus der Ferne voyeuristisch Kinder-Schicksale an,<br />

ohne wirklich helfen zu wollen. Dieser Ohne-Mich-Standpunkt ist alltäglich. Wir brauchen aber<br />

Leute, die zupacken, informieren, helfen, Kindesmisshandlungen aufdecken. Wunschdenken?<br />

Auslösende Faktoren, Initial-Momente , Kindern den Krieg zu erklären, sind zuvörderst<br />

Ehekonflikte, Alkoholismus, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit und Armut. Untersuchungen<br />

belegen, dass soziale Zerrissenheiten zu Aversionen gegen das Kind <strong>als</strong> "Nichtsnutz" bis zum<br />

krankhaften Zwang steigern. Im wohlhabenden Deutschland - dem Land der proklamierten<br />

sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit auch unterer Schichten - leben mehr <strong>als</strong> 2.6<br />

Millionen Kinder in Armut. Vornehmlich in Berlin, dem üppigen Hauptstadt-Schaufenster, sind es<br />

200.000 Kinder und Jugendliche. Und die Zahl driftet weiter steil nach oben. Kinder-Armut hat<br />

sich im Zeitraum der Jahre 2003-2008 verdoppelt - besonders in Mitleidenschaft gezogen sind<br />

Kleinstkinder unter sieben Lebenslenzen - dort, wo Babynahrung ein unerschwinglicher Luxus<br />

wird, da sind in Berlin Reichstag, Museen-Galerien und Oberschicht-Nippes-Boutiquen nicht fern.<br />

Wo das Leben unerschwinglich teuer ist und wenigstens der Tod vom Sozialamt bezahlt wird -<br />

auch da ist Berlin.<br />

Die Sozialwissenschaftler und Bildungsforscher der Universität Bielefeld, Klaus<br />

Hurrelmann und Sabine Andresen, kamen in ihrer ersten umfassenden Milieu-Untersuchung<br />

(World Vision Kinder-Studie, 28. Januar 2008) bei Kindern zwischen acht und elf Jahren zu dem<br />

Ergebnis, "dass die Klassengesellschaft in Deutschland keine neue Entwicklung ist. Erschreckend<br />

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