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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Auch im Essens-Saal ist der Platz knapp. Die zwei Tassen wässriger Hafersuppe schlürfen<br />

die meisten im Stehen hastig herunter. Die Wachposten, die Maschinenpistolen über der Schulter,<br />

treiben zur Eile. Die Armee-Lastwagen warten. Es ist sieben Uhr. Der Menschentransport beginnt.<br />

Langsam schieben sich die Laster, auf denen jeweils 50 Gefangene zusammengepfercht<br />

hocken, bewacht von abgerichteten Hunden, durch den Haupteingang des Lagers. Vorbei an<br />

Militärposten mit Maschinenpistolen im Anschlag, vorbei an Stacheldrahtverhauen und den neuen<br />

hohen Holzzäunen. Durch Stadtbezirke Rigas geht es über die "Krustpils lela", zu deutsch<br />

"Kreuzburgstraße", hinaus nach "Incukalna", einem Fabrikgelände mit Sägewerk und Holzlager.<br />

Ob im heißen Sommer oder im bitterkalten Winter, für die Verbannten von Riga gibt es<br />

keinen Unterschied. Sie müssen neun Stunden pro Tag im Freien schuften - dazwischen liegen<br />

knappe 15 Minuten Pause. Die Sträflinge haben nur ein Ziel: die hohen Arbeitsnormen<br />

einzuhalten. Darüber wacht ein Soldat mit Stoppuhr und Notizbuch.<br />

Für die Knochenarbeit bekommen die Gefangenen 50 Kopeken pro Tag. Das sind nicht<br />

einmal zwei Mark. Von diesen zwei Mark werden 1,60 Mark für das Essen abgezogen.<br />

Moskaus Parteifunktionäre planen die Arbeit der Gefangenen in ihren<br />

Wirtschaftsprogrammen fest ein. Gäbe es sie nicht, würden in Riga die supermoderne "Popow-<br />

Elektrofabrik", das neue Brotkombinat und die Wasserversorgungsanlage nicht stehen. Die<br />

sowjetische Zeitung "Kasachstanskaja Prawda": "Die von Gefangenen verrichtete Arbeit ist<br />

Schwerarbeit, und die Produktionsnormen sind maximal. Eine Arbeitskolonne ist kein<br />

Erholungsheim. Hier muss gearbeitet werden. Im Schweiße des Angesichts."<br />

Um 17 Uhr sollen die Laster zurück ins Lager. Schon eine halbe Stunde später beginnt der<br />

politische Unterricht. Unteroffiziere lesen aus den Werken von Marx und Lenin, lassen Texte<br />

aufsagen und klopfen immer wieder die politische Gesinnung ab. Kommt die Rede auf die<br />

Menschenrechte, dann fallen Sprüche, wie sie der Bewacher Ljubajew vor Häftlingen äußerte:<br />

"Menschenrechte? Das ist etwas für Neger!"<br />

Wer sich nicht parteifromm verhält, muss mit harten Strafen rechnen. Familienbesuche,<br />

ohnehin nur alle sechs Monate erlaubt, werden gestrichen. Die Essensrationen, durchschnittlich<br />

1.800, manchmal sogar nur 1.300 Kalorien pro Tag, werden um die Hälfte gekürzt - zum Sterben<br />

zu viel, zum Leben zu wenig. Nach allgemeingültiger Ansicht benötigt ein körperlich schwer<br />

arbeitender Mensch weit über 3.000 Kalorien.<br />

Wer im Lager aufmuckt, kommt zu Saul in die "Spezialklinik". Schon sein Name sorgt im<br />

Lager für Angst und Schrecken. Denn "Saul mit den Sechs-Unzen-Boxhandschuhen", wie er wegen<br />

seiner Lieblings-Werkzeuge im Lager genannt wird, kann die Geschundenen körperlich so quälen,<br />

dass keine sichtbaren Spuren zurück-bleiben. Bei der Umerziehung "ist jede beliebige Maßnahme<br />

und Methode der pädagogischen Einflussnahme einzusetzen" - so steht es in de 1972 verfassten<br />

Erläuterungen der sowjetischen Gesetzgebung.<br />

Das Arbeitslager OZ 87/7 ist berühmt für seine "Feldscher". So werden in der<br />

Sowjetunion jene Hilfskräfte genannt, die ohne jede medizinische Ausbildung an kranken<br />

Gefangenen herumdoktern. Oft sind die "Feldscher" selbst Gefangene, die, weil es kein geschultes<br />

ärztliches Personal gibt, Sprechstunden abhalten. Dabei wäre gerade in Riga Mediziner dringend<br />

nötig, denn fast täglich passieren im Sägewerk "Incukalna" schwere Arbeitsunfälle. Die Männer<br />

arbeiten ohne den geringsten Sicherheitsschutz: keine Helme, keine Handschuhe, keine<br />

Schutzbrillen.<br />

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