07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Geschichten, den Gewalt-Geschichten, eine obszöner <strong>als</strong> die andere - der Stephan aus Hannover,<br />

der Ronald aus Berlin, die Karin aus Celle oder auch Ilona aus Iserlohn, der Gregor aus Emden;<br />

keiner war mal gerade älter <strong>als</strong> zwölf Jahre.<br />

Dabei schilderten sie ihre sexuellen Kinder-Erlebnisse - Ur-Geschehnisse mal eben so mit<br />

einer scheinbaren Lockerheit, auch arglosen Unbekümmertheit, <strong>als</strong> hätten sie sich gerade einen<br />

Haribo-Lutscher gekauft. Sie hatten sich sehr oft im Halbkreis aufzusetzen und aus ihrem<br />

Liederheftchen "Mundorgel" zu trällern. Da lagen sie "vor Madagaskar und hatten die Pest an<br />

Bord" oder sie sangen "kein schöner Land in dieser Zeit, <strong>als</strong> hier das unsere weit und breit". Jeden<br />

Morgen vor dem Frühstücksgebet, so wollte es das Heim-Ritual, galt es ein besonders zutreffendes<br />

Liedchen zu schmettern; "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König." -<br />

Re<strong>als</strong>atire oder bittere Ironie ausgegrenzter Kinder-Jahre. Allabendlich zur Gebets-Andacht vor<br />

dem Zubettgehen hatten sie in der Heimhalle ihren Segen mit sauberen Fingernägeln abzuholen<br />

und zu summen "Herr erbarme dich" ... ... Das war am Sonnabend immer so, bevor des Nachts<br />

schwanzpralle Erzieher während ihres Nachtdienstes zu den Jungs unter die Bettdecken krochen<br />

oder sich Kindergärtnerinnen ihre Nylon-Strumpfhosen von kleinen Mädchen abpellen ließen.<br />

Verschieden waren ihre Anlässe fürs Heim-Asyl, die Szenerien blieben austauschbar:<br />

Gewalteinwirkungen, Handkantenschläge, Fausthiebe und Tritte, sexuelle Abrufbarkeit, sexuelle<br />

Beliebigkeit hatten hinlängliche Spuren hinterlassen - seelische Fußabdrücke, auch<br />

Bindungslosigkeit des Kommens und Gehens genannt. Und wieder waren es nahezu ausnahmslos<br />

Männer mit Klapperlatschen und manierlich blank rasierten Beinen - Frauen mit Knotenfrisuren,<br />

wie einst in der Nazi-Zeit, die auch hier noch fortlaufend ihr Kommando im Namen evangelischer<br />

Pastoren führten. Ein Knoten beim Wecken, ein Knoten bei der Essensausgabe der Suppenkübel,<br />

ein Knoten im Büro, ein Knoten beim Abendlied und letztlich der aufgemachte Knoten im Bett.<br />

Die allgegenwärtig plötzlich auftauchende Knotenfrisur in den sechziger Jahren war schon<br />

irgendwie ein Synonym für ein fortlebendes Mode-Überbleibsel aus einer braunen Epoche;<br />

wenigstens das. - Unbeherrschte , unnahbare, launische Nazi-Fräuleins in Heimen jugendlicher<br />

Fürsorge; hin und wieder gibt es einen kurzen Schlag ins Gesicht oder mit dem Bügelbrett-Lineal<br />

eins auf die Finger. Scheinbar ewig wirken ihre immer und immer wieder ausbrechenden<br />

Brüllereien nach; auf den endlos langen, nie enden wollenden schallgedämpften, abgedunkelten<br />

Fluren. Wer hier überleben wollte in diesem ausgegrenzten Kinder-Getto kleiner Mädchen wie<br />

Jungs - und das wollten eigentlich alle - hatten sehr schnell im Flüsterton sprechen lernen müssen:<br />

Wer sich hier von Erzieherinnen oder Erziehern, aber auch abkommandierten Kalfaktoren nicht<br />

ficken lässt, der hat schon verloren. Augenzwinkern. Achselzucken. Bedrohung. Punktum.<br />

Es war die in der Schweiz lebende Kindheitsforscherin Alice Miller ("Das Drama des<br />

begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, 1979) die darauf dezidiert hinwies: dass<br />

auch ohne vitales Erinnern die Langzeitfolgen von Gewalt, sexuellem Missbrauch latent in Körper<br />

und Seele lauern, dort eine bedenkliche Eigendynamik freisetzen können. Pfade am<br />

gesellschaftlichen Wegesrand waren somit vorgezeichnet. Mit anderen Worten: Hier sorgte eine<br />

wegschauende Gesellschaft dafür, wie sie aus dem Gewalt-Opfer Kind, ausweglos Täter späterer<br />

Jahre macht: Gewalt gegen sich selbst, Gewalt gegen andere. Alice Miller meint: Um solche<br />

Gefahren-Potenziale zu verhindern sei es für solche Kinder wichtig, im Laufe ihres<br />

Erwachsenenwerdens die eigenen authentischen Gefühle von Schmerz in der Kindheit zu<br />

erkennen, und vor allem sie zu verarbeiten. Ohne dieses präzise Erinnern, jenes erneute Erlebbare<br />

sei ein Bezug zur eigenen Geschichte, zum eigenen Geschehen versperrt. Meist ist eine<br />

schonungslose, oft beherzte wie auch schmerzhafte Offenheit zum hastig Verdrängten der Beginn<br />

6

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!