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SOWJETUNION - DER LEIDENSWEG DES<br />

GENERALMAJORS PJOTR GRIGORENKO (TEIL 3)<br />

stern, Hamburg 13. April 1978 11<br />

Dr. Jouri Novikov ist der führende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den<br />

Westen gelang. Er erlebte jahrelang, wie seine Kollegen im Auftrage des KGB Bürgerrechtler in<br />

Irrenhäuser verbannten. Besonders infam behandelten KGB-Psychiater den früheren Generalmajor<br />

Pjotr Grigorenko.<br />

Andere rissen sich darum, mir waren sie ein Gräuel: die Überlandfahrten in die Provinz.<br />

Aber diese Inspektions-reisen zur Kontrolle psychiatrischer Kliniken gehörten zu meinen Pflichten<br />

<strong>als</strong> Abteilungsleiter im "Serbskij"-Institut, der obersten Instanz für Gerichtspsychiatrie in der<br />

Sowjetunion. Meine Stippvisiten liefen fast immer nach demselben Schema ab. Begrüßung durch<br />

das örtliche Partei-Komitee am Bahnhof. Abendessen mit dem Anstaltsleiter im Hotel, meist floss<br />

der Wodka reichlich. Am nächsten Morgen Rundgang durch die Anstalt - altvertraute Bilder,<br />

immer dieselben Klagen: zu viele Patienten, zu wenig Betten, fehlende Medikamente. Für die<br />

Inspektion des "Kollegen aus Moskau", wie sie mich nannten, war nicht einmal der Flur geschrubbt,<br />

geschweige die Toilette gereinigt worden.<br />

Ich schrieb seitenlange Berichte, prangerte die Missstände an, machte konkrete<br />

Vorschläge für das Gesundheitsministerium. Professor Georgij Wassiljewitsch Morosow, Direktor<br />

des "Serbskij"-Instituts, sprach mich einmal auf diese Berichte an: "Jouri, du kannst ruhig ein paar<br />

Seiten weglassen. Die Russen gewöhnen sich an alles. Die da draußen an ihren Notstand, die im<br />

Ministerium an die Beschwerden." Auch ich stumpfte ab. Ich musste es <strong>als</strong> unumstößliche<br />

Tatsache hinnehmen: Je weiter die Klinik von Moskau entfernt war, desto katastrophaler war die<br />

medizinische Versorgung. Daran änderten auch die Fünf-Jahres-Pläne des Ministerrats nichts, die<br />

der Medizin Vorrang einräumten und die Bettenzahl in allen psychiatrischen Krankenhäusern in<br />

den letzten fünfzehn Jahren von 220.000 auf das Doppelte erhöhen sollten.<br />

Das Geld aus Moskau versickerte auf dem Weg in die Provinz. Für die örtlichen<br />

Parteikomitees gab es immer etwas, was noch dringender war. Auf der Strecke blieben die<br />

Krankenhaus-Neubauten. So zum Beispiel in der Provinzstadt Karkaralinsk in Kasachstan, wo in<br />

einer feierlichen Zeremonie 1975 zwar der Grundstein gelegt wurde, wo aber bis heute noch nicht<br />

einmal die Außenmauern hochgezogen worden sind. Bei psychiatrischen Sonderkliniken allerdings<br />

gibt es keine Neubauprobleme. Diese Aufbewahrungsanstalten, von denen es zwölf in der<br />

Sowjetunion gibt, sind fast ausnahmslos in alten Gefängnissen untergebracht. Hinter Stacheldraht<br />

und dicken Mauern sitzen Patienten, die auch nach westlichen Maßstäben geisteskrank sind und die<br />

man nicht mehr frei herumlaufen lassen kann. Es werden in diesen Sonderkliniken aber auch<br />

politische Dissidenten <strong>als</strong> "Geisteskranke" interniert, obwohl sie geistig gesund sind.<br />

Die Psychiater des "Serbskij"-Instituts dürfen den Gerichten zwar die Einweisung von<br />

Patienten in die Sonderkliniken empfehlen, ihnen selbst ist der Zutritt zu den Anstalten jedoch<br />

verwehrt. Diese Psycho-Sonderkliniken sind die geheimnisvollsten Krankenhäuser der<br />

Sowjetunion. Sie sind auch die Einzigen, die nicht dem Gesundheitsministerium, sondern den<br />

11 Aufgezeichnet mit Erich Follath<br />

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