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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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das am Wegesrand nach Kundschaft Ausschau hält. Es ist Ninou. Ein Gesicht voller Blutergüsse,<br />

aufgeschlagene Lippen - die Frau ist zum Anschaffen geprügelt worden. Täglich muss sie 200 Euro<br />

abgeben. Auch wenn solche Frauen verzweifelt sind - eine Grundregel aus dem Mac-Milieu haben<br />

sie verinnerlicht: Unterwerfung, Gehorsam und Schweigen sind selbstverständlich. Frankreichs<br />

Massen-Zuhälterei funktioniert nach dem Kodex einer Sekte.<br />

Nun <strong>als</strong>o bringt die Zivilstreife Ninou in den Schutzbunker am Boulevard de la Pomme.<br />

Dort sitzt sie dann Christian Metterau gegenüber, dem Leiter des Empfangs- und<br />

Orientierungskomitees "Le Nid". So nennt sich diese schon in den vierziger Jahren gegründete<br />

katholische Hilfsorganisation des Paters Talvas, einem Arbeiterpriester, der sich zur Lebensaufgabe<br />

gemacht hatte, Prostituierten zu helfen. "Nicht predigen, sondern sehen, zuhören, urteilen,<br />

handeln, von den Bedürfnissen der Prostituierten ausgehen", war die Devise des Paters. Als eine<br />

der Ursachen für die Prostitution in seinem Land sieht der Pater die Tatsache, "dass Staat und<br />

Kirche sich im katholischen Frankreich seit Jahrhunderten nicht einig geworden sind, der Frau eine<br />

gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. Schon das französische Gesetz betrachtet<br />

die männliche Begierde <strong>als</strong> normal und notwendig. Das weibliche Angebot hingegen <strong>als</strong> unzüchtig<br />

und unehrlich. Ganz im Sinne der vorherrschenden Meinung in der Kirche, wonach nun einmal die<br />

Frau der Ursprung des Sündenfalls ist."<br />

Und die Prostituierten kamen zu ihrem Pater. Vornehmlich in der Nachkriegszeit, <strong>als</strong> viele<br />

Frauen Witwen waren, <strong>als</strong> das Geld und die Lebensmittel fehlten. Doch jetzt, in den neunziger<br />

Jahren, steigt der Anteil der Hilfe suchenden Liebesdienerinnen wieder an. Bedrückt sitzt Christian<br />

Metterau mit Ninou im Empfangsraum. Der 44jährige Diakon weiß nicht mehr, wo er die junge<br />

Frau noch unterbringen soll. Wegschicken kann er sie nach seinem Selbstverständnis auch nicht.<br />

Erst in der vergangenen Woche nahm er nervlich erschöpfte Prostituierte aus den armen Ländern<br />

Afrikas auf, vor allem aus Ghana. Einst ließen sie sich vom "Mythos Côte d'Azur" anlocken oder<br />

zum Broterwerb verschleppen. Jetzt wurden sie von ihren Zuhältern wegen "Überalterung"<br />

ausrangiert.<br />

Ninou, die im kahlen Aufnahmesaal kaum ein Wort herausbringt, fürchtet abgewiesen zu<br />

werden, aberm<strong>als</strong> für ihren Zuhälter an den Ausfallstraßen zu Marseille marschieren zu müssen.<br />

"Wir sind schon lange in einer krassen Ausnahmesituation", verdeutlicht Christian Metterau, "nur<br />

keiner will das Elend des Nutten-Daseins in seiner Tragweite wirklich wahrhaben. Vom Staat<br />

bekommen wir keinen Cent, viele Helferinnen arbeiten hier noch rund um die Uhr unentgeltlich.<br />

Und unsere fünfzehn Häuser in ganz Frankreich sind brechend voll. Etwa zwei Drittel der Frauen<br />

wollen raus aus der Prostitution -wenn sie nur können."<br />

Immerhin beherbergte Le Nid landesweit in den letzten zehn Jahren etwa 15.000 Frauen,<br />

die den Absprung suchten. Seit fünf Jahren hilft Christean Metterau. Aber wohl keiner weiß besser<br />

<strong>als</strong> er, dass es für den Problemfall Prostitution keine Standardlösungen gibt. Er sagt: "Hier wird am<br />

deutlichsten, welch eine psychische Macht Zuhälter über diese Frauen bis hin zu ihrer<br />

Unterwerfung haben." Manche Frauen betteln am Morgen um Aufnahme - am nächsten Tag gegen<br />

Abend sind sie schon wieder verschwunden - gesichtet an ihrem Arbeitsplatz auf dem Strich. Dabei<br />

hatte sie keiner in ihrem Versteck dazu gezwungen oder gar an ihren "Mac" verraten. Sie waren es<br />

selber, die den "Freund" anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wollten sie doch<br />

"nur" in Erfahrung bringen, ob sie vermisst, gebraucht werden. Sie sehnen sich nach einem<br />

Liebesbeweis.<br />

Schon ein kurzer Blick in die sogenannten Le-Nid-Personalakten der Außenseiter-Frauen<br />

zu<br />

596<br />

Marseille liefert einen seismografischen Teilausschnitt gesellschaftlicher

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