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ARMUT IN FRANKREICH - FREIER FALL INS ELEND<br />

Die Konjunktur läuft, aber gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit. Menschen<br />

bleiben draußen vor der Tür. Über 2,5 Millionen Französinnen leben von Sozialhilfe, eine<br />

halbe Millionen ziehen obdachlos durchs Land - jeder vierte Jugendliche bleibt ohne Job.<br />

In ehem<strong>als</strong> reichen Bergarbeiterdörfer - wie hier in Le Chambon Feugerolles in der Loire -<br />

oder in vielen banlieues großer Metropolen prägt und bestimmt nur noch die halbwegs<br />

versteckte Not ihren Alltag. Schriller Überlebenskampf. "Wir Frauen schämen uns hier in<br />

Frankreich noch, wenn uns die Armut erwischt. Das ist nicht normal", sagt die 48-jährige<br />

Annie Bonnard .<br />

Neue Osnabrücker Zeitung 29. Februar 1996<br />

Nur ein schmaler, gewundener Dienstbotenaufgang führt auf den Dachboden eines<br />

verwinkelten Apartementhauses in der Rue Salengro im Loire-Städtchen Le Chambon Feugerolles<br />

in der Nähe von St. Etienne. Hinter einer antiken Holztür ohne Namensschild versteckt sich die<br />

Armut dieser Region - Frauen-Armut. Die 48jährige Annie Bonnard kommt seit neun Jahren<br />

nahezu täglich zum "Colletif Chômeurs", zur Bürgerinitiative der Arbeitslosen in diesem ehem<strong>als</strong><br />

reichen Bergarbeiter-Ort.<br />

"Einfach deshalb", wie sie knapp bemerkt, "um die krankmachende Isolation zu<br />

durchbrechen und ein bisschen Not mit den kostenlosen Fresspaketen der "restaurants du coeur"<br />

zu lindern. Wir Frauen verstecken und schämen uns hier in Frankreich immer noch, wenn uns die<br />

Armut erwischt hat. Das ist doch nicht normal. Schließlich sind wir in der Mehrheit", fügt sie<br />

trotzig hinzu.<br />

Immerhin können die Frauen vom "Collectif Chômeurs" sechs Nähmaschinen und drei<br />

Bügeleisen ihr eigen nennen. Geschneidert wird wochentags in drei Gruppen zur<br />

"Wiedereingliederung", wie es offiziell bedeutungsvoll heißt. Tatsächlich geht es den Frauen darum,<br />

für sich und ihre Kinder wenigstens halbwegs tragbare Klamotten zu nähen. "Sonst bliebe uns ja<br />

nichts", murmelt Annie irgendwie rechtfertigend.<br />

Annie Bonnard ist keineswegs verbittert. Aber viel über Einzelschicksale zu reden, eine<br />

sogenannte Betroffenheits-Mimik wachzurütteln - das hat sie längst aufgegeben. Derlei Szenarien<br />

öden sie an. Madame Annie deutet kurz auf ihren leicht gespreizten Mittelfinger der rechten Hand.<br />

Jedenfalls will Annie das oft zerkratzte Innenleben jener in Not geratenen Frauen in der<br />

Öffentlichkeit nicht breitgetreten wissen - nicht mehr.<br />

Dabei läuft nichts mehr - so gar nichts mehr - in Le Chambon Feugerolles. An die 55<br />

Prozent der Einwohner und jede zweite Frau lebt ohne Broterwerb. Viele handwerkliche<br />

Kleinbetriebe haben geschlossen, die einst einträglichen Bergwerke liegen brach, Häuser des<br />

sozialen Wohnungsbaus stehen leer, Läden verfallen, etliche Bars und Hotels machten stickum<br />

dicht. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt durchschnittlich nur noch 4.150 Euro während<br />

es sich etwa im Ring um Lyon noch auf etwa 21.400 Euro beläuft. Und Steuern nimmt die<br />

Kommune lediglich ganze 280 Euro je Einwohner im Jahr ein. Minusrekorde der Republik,<br />

Armutszahlen.<br />

"Die Kinder dieser Stadt", flüstert die Sozialarbeiterin Véronique Rullière hinter<br />

vorgehaltener Hand, "lernen hier vieles kennen - Hunger, Alkohol, Cannabis, Prostitution,<br />

Schulden. Das alles spielt sich mehr oder weniger auf den hundert Metern zwischen Jugendhaus<br />

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