07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

nach Hamburg, vielleicht aber auch nach Berlin. "Wir werden schon sehen", sagte Harald.<br />

"Irgendwann kommen wir schon irgendwo an und treffen irgendwelche Typen."<br />

Irgendwann, irgendwo, irgendwen - eines war beiden gewiss, dass alles ungewiss ist, Sie<br />

stocherten ziellos nach Norden. Morgens waren sie in Bremen, nachmittags in Cuxhaven, am<br />

nächsten Tag in Hamburg, am darauffolgenden in Berlin. Eine kleine Odysee, denn zu Hause<br />

hatten sie kaum über den Tellerrand gucken dürfen, und groß herumgekommen waren sie auch<br />

noch nicht, wenn man von zwei Reisen nach Freiburg einmal absieht.<br />

Nun standen Harald und Gerry auf dem KuDamm mit seinen unzähligen Restaurants und<br />

seiner x-beliebigen grellen Plastik-Reklame. Sie schauten drein wie ungläubige Berlin-Touristen, die<br />

sie eigentlich nicht sein wollten, warfen einen Blick über die Berliner Mauer (1961-1989), die sie nur<br />

vom Fernsehen kannten. Alles schien erschien ihnen ein wenig unwirklich. Da gab's keinen<br />

überschaubaren Marktplatz mehr, keine Butzenscheiben und keine Fachwerkhäuser. Dafür zog ein<br />

Sektenpulk in Mönchskutte und Irokesen-Haarschnitt durch die Straßen. Junge Typen in ihrem<br />

Alter bimmelten und rasselten mit ihren Klingelbeuteln. "Jesus lebt", schrien sie unentwegt. Da<br />

standen verquollene Jugendliche in den U-Bahnschächten, ängstlich und wibbelig warteten sie auf<br />

ihre Heroin-Erlöser. Und immer wieder sahen sie die Sight-seeing-Busse im Doppeldecker-Format,<br />

die die westdeutschen und internationalen Touristen von einer vermeintlichen Attraktion zur<br />

anderen karrten.<br />

Drei Wochen irrten Harald und Gerry durch die Stadt. Sie schliefen im Auto und aßen an<br />

Würstchen-Buden. Sie schlenderten nachts über den Stuttgarter Platz mit seinen Privat-Puffs und<br />

Pornoschuppen. In der Potsdamer Straße trafen sie auf zwei Mädchen. Die eine stellte sich <strong>als</strong> Ina,<br />

die andere <strong>als</strong> Lena vor. Beide dürften so um die vierzehn gewesen sein. Zwanzig Mark sagten sie.<br />

Es war nachmittags um drei. In der Disco "Early Bird" erlebten sie eine Massenschlägerei im<br />

Schummerlicht. Englische und französische Troupiers probten mit Bierflaschen und Stuhlbeinen<br />

eine NATO-Variante. In der Jebenstraße, hinterm berüchtigten Bahnhof Zoo, wurden sie von<br />

Strichjungen verjagt. Und auf dem Savigny-Platz kauften sie sich ihren ersten Joint. Das Gramm<br />

für zehn Mark.<br />

Dem Irgendwann und irgendwo folgte in der Pinte "Nulpe" in der Yorkstraße der<br />

irgendjemand. Zufall war es, dass er Johannes heißt und aus Donaueschingen kommt. Zufall auch,<br />

dass Johannes einen Typen namens Werner kennt, der ebenfalls aus Donaueschingen abgehauen<br />

ist. Zu Hause, in der ordentlichen Kleinstadt, sind sie sich nie begegnet, in der "Nulpe", im<br />

heruntergekommenen Kreuzberg, lernen sich die Vier kennen. Da war es dann schon kein Zufall<br />

mehr, dass sie gemeinsam in eine Wohngemeinschaft zogen. Für Johannes und Werner, sie lebten<br />

bereits zwei Jahre überall und nirgends in West-Berlin, ist die Großstadt zu groß. Für Harald und<br />

Gerry war die Kleinstadt zu klein geworden.<br />

Vier Jugendliche in diesen Tagen. Nichts ist besonders auffällig an ihnen, eher scheint<br />

alles bundesdeutsch normal. Harald lernte Installateur, Gerry Elektriker und Werner Tischler. Sie<br />

bestanden ihre Gesellenprüfungen und hatten einen krisenfesten Arbeitsplatz. Johannes machte das<br />

Abitur und schaffte fürs Jura-Studium problemlos den Numerus clausus. Alle vier hatten die von<br />

ihren Eltern in sie gesetzten Erwartungen erfüllt und standen in ihrer Umwelt keineswegs <strong>als</strong><br />

Versager da. Dennoch sind sie es, die sich der Gesellschaft versagten. Nach außen unauffällig und<br />

schweigsam. Dabei lassen sich ihre Beweggründe von keinem modernistischen Klischee ableiten,<br />

keine gängige Polit-Maxime trifft auf diese vier Aussteiger zu.<br />

421

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!