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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Meist sind es Leute aus Nordafrika und neuerdings auch aus den früheren<br />

Ostblockstaaten. Irgendwo auf der Straße oder an den Bars geschnappt in den angrenzenden<br />

Départements Ain, Rhône, Loire. Immer wieder dieselben Vergehen: keine Arbeitspapier. Und ab<br />

geht die Post. Knappe 24 Stunden Polizeigewahrsam, Zivilrichter im Schnellverfahren, maximal<br />

sieben Tage im Abschiebelager -Frankreich ade. Sich übers Asylverfahren einen Platz "im Land der<br />

Sonne" zu ergattern, ist praktisch aussichtslos. In durchschnittlich 50 Tagen liegt ein richterliches<br />

Urteil vor. Im Jahr 1992 wurden insgesamt 47.400 Asylanträge gestellt und 80 Prozent abschlägig<br />

beschieden.<br />

Sich gar eine Französin oder einen Franzosen <strong>als</strong> letzten Ausweg für eine Scheinehe zu<br />

angeln - auch dieser weitaus kostspieligere Weg ist mittlerweile nahezu chancenlos: Frankreichs<br />

Ausländer-Polizei sitzt nämlich ungefragt mit auf der Bettkante. Nachforschungen über "un amour<br />

véritable" (wahrhaftige Liebe) laufen vielerorts -bei Verwandten, am Arbeitsplatz, in der<br />

Nachbarschaft. Deshalb glaubt der Bürgermeister von Toulouse, Dominique Baudis, zu wissen,<br />

dass die Hälfte der in seiner Region geschlossenen Partnerschaften "regelrechte Scheinehen" sind.<br />

Wenn im Standesamt zu Toulouse "Leute mit ausländisch klingenden Namen" (Baudis) auftauchen,<br />

gar ein Aufgebot bestellen wollen, unterrichtet der Bürgermeister unbesehen sogleich den<br />

Staatsanwalt, der seinerseits die Ausländerpolizei zu Vorortkontrollen einsetzt. Eine langjährige<br />

Aufenthaltsgenehmigung gibt es sowieso für den ausländischen Partner der sogenannten Mischehe<br />

(1991: 33.000) erst ein halbes Jahr nach der Trauung. "Und nur dann", bekundet der Stadtvorsteher<br />

selbstgewiss, "wenn mir abgesicherte Berichte vorliegen, dass die amour véritable voll und ganz<br />

funktioniert." - Intimkontrollen auf Französisch.<br />

"Irgendwie, auf welche Weise auch immer", befindet Muriel, "sehen sie sich alle auf Dauer<br />

in solch einem Abschiebelager wieder. Frankreich kennt schon lange kein Pardon, kein<br />

Augenzwinkern mehr, erst recht mit der neuen Regierung." Das Abschiebecamp Sainte-Foyes-Les-<br />

Lyon wurde im Jahre 1984 angesichts der steigenden Bedarfszahlen in Betrieb genommen, hat 24<br />

Betten. Fluchtmöglichkeiten gibt es so gut wie keine. Nachts leuchten gleißende Scheinwerfer das<br />

Gelände aus. Ein Areal, das durch Mauern, Gitter und Stacheldraht schnörkellos gesichert wird.<br />

Alle dreißig Tage lösen sich Sondereinheiten der CRS-Polizei ab.<br />

Kontakte zur Außenwelt bestehen während der meist siebentägigen Verweildauer so gut<br />

wie keine. Befindlichkeiten der Ausgestoßenen, ihren seelischen Ausnahmezustand schlechthin - all<br />

jene Unwägbarkeiten haben die Pariser Politik-Männer vorsorglich Frauen wie Muriel von der<br />

CIMADE übertragen - zur Gewissensberuhigung sozusagen. Schließlich bürgt schon dieser Name<br />

der Flüchtlingsorganisation für Seriosität samt französischer Tradition. Waren es doch<br />

ehrenamtliche CIMADE-Helfer, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Franzosen aus Elsass-<br />

Lothringen evakuierten, in den Konzentrationslagern den Schmerz vor dem Tode zu lindern<br />

suchten. Hingebungsvolle Frauen, die sich auch um die Tausende und aber Tausende von<br />

Franzosen-Flüchtlingen kümmerten, die sich Anfang der sechziger Jahre nach dem ruinösen<br />

Algerien-Krieg mittellos nach Frankreich retteten.<br />

Und in dieser Kontinuität sieht Muriel den Flüchtlingsexodus dieser Jahre. Unbehagen<br />

befällt sie, wenn Muriel laut die Frauen-Rolle in der von Männern veranstalteten Welt hinterfragt.<br />

Sie murmelt: "Wir Frauen sind noch immer für die Drecksarbeit zuständig und haben zu alledem<br />

noch lieb, weich wie auch offenherzig sein." Muriel hatte sich gerade um eine Marokkanerin<br />

gekümmert, die im Lager ihren Kopf wie eine Wahnsinnige unentwegt an die Wand knallte.<br />

Empfindliche Brustschmerzen hatte diese Frau. Und immer wieder schrie die junge Marokkanerin:<br />

"Lasst mich raus aus dieser Hölle." Ihr zweimonatiges Baby , das sie derzeit stillen musste, was ihr<br />

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