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BERLIN IM KALTEN KRIEG: LEBENSLUSTIG UND<br />

KUNTERBUNT - ENDZEIT-STIMMUNGEN IN DEN<br />

ACHTZIGERN<br />

metall-magazin, Frankfurt am Main - 03. September 1980<br />

Grenzübergang Herleshausen/Wartha an einem Samstagmorgen im August. Langsam<br />

schiebt sich die auf 200 Meter angestaute Autokolonne an den DDR-Kontrollpunkt heran. Eine<br />

Blechlawine, die fürs Wochenende nach West-Berlin rollt. Vollgestopfte Touristenbusse aus dem<br />

Süden der Republik, Familienkutschen mit Thermoflaschen, Stullen und Kindersicherheitssitzen.<br />

Die meisten aus dem Frankfurter Raum, hin und wieder ein paar unorthodoxe Gestalten, Latzhose,<br />

Jesus-Latschen und den obligaten "Atomkraft, nein danke"-Aufkleber am Heck ihrer Kleinkarosse.<br />

Ihr Gegenüber: zackige DDR-Grenzer, die den eingebläuten Stechschritt wohl kaum<br />

verlernen werden. Die Haare im Nacken sind liniengerade abgestutzt, die Ohren frei rasiert.<br />

Preußische Sozialisten auf der einen, westdeutsches Allerlei auf der anderen Seite. Ein<br />

notgedrungenes, unterkühltes tête-à-tête, das seit Jahren aus den Schlagzeilen raus ist. Die Fragen<br />

der DDR-Grenzer sind knapp, kein überflüssiges Wort, ihre Blicke sind geschult und routinesicher,<br />

keine auffällige Geste - ein zurückgenommenes Verhalten wie vielerorts.<br />

Das alles dauert nur wenige Minuten - Reisepass und Kfz-Schein abgeben - warten - ein<br />

Stück vorfahren - Identitätskontrolle - weiter geht's. Und dennoch brechen in solchen Momenten<br />

deutsch-deutsche Eigenarten auf, wenn auch manchmal nur für Sekunden. In diesem Augenblick<br />

wären Sätze wie "Freie Fahrt für freie Bürger" undenkbar, da wird weder gemault noch gemotzt.<br />

Der Bundesbürger begegnet der personifizierten DDR-Staatsmacht still, artig, bisweilen devot.<br />

Vielleicht ist es der Angst einflößende Habitus, die Uniform <strong>als</strong> Garant für Kompetenz, Zugriff<br />

und Selbstsicherheit, die schlummernde Rudelsehnsüchte aberm<strong>als</strong> wecken. Vielleicht kommen<br />

auch Berührungsängste hoch. Nur kann die DDR-Staatsgrenze West der augenscheinliche Grund<br />

dafür nicht sein. Hohe Sichtschutzwände versperren nämlich den Blick auf Drahtzäune,<br />

Selbstschussanlagen, Panzersperren, Beobachtungstürme. - Herleshausen-Wartha präsentiert sich<br />

international. Beinahe so, <strong>als</strong> bestünde jenes Monstrum aus Tretminen und Todesstreifen nur in<br />

den wirren Köpfen einiger Fantasten.<br />

Aber auch das ist Herleshausen-Wartha. Der Beginn einer unendlich erscheinenden Fahrt<br />

auf der Transitstrecke nach Westberlin. "Bleiben Sie strikt unter hundert". hatte der<br />

bundesdeutsche Grenzer dem Hanauer Elektroschweißer Eberhard Polikeit noch empfohlen.<br />

Denn die Kontrollen sind engmaschig, die Strafen horrende und unerbittlich.<br />

Westberliner Transit-Profis, die da zigmal im Jahr durch die DDR pesen, wissen das nur<br />

allzu genau. Oft fahren sie am Wochenende "nur mal kurz" in den Harz oder in die Lüneburger<br />

Heide, weil sie der Stadtkoller zu zerfressen droht. Unzählige halten sich erst gar nicht an das<br />

vorgegebene Tempolimit, lassen es gleich mit 120/130 angehen, stochern munter drauflos. Da<br />

versteht es sich von selbst, dass hochempfindliche Funkmessgeräte ausschlagen und die<br />

Transitautobahn somit zu einer sicheren aber auch lukrativen Devisenquelle geworden ist.<br />

Immerhin passieren jährlich an die 16 Millionen Autofahrer die deutsch-deutschen Grenzen.<br />

Sollten sich nur jeder achte in einer Radarkontrolle verfangen, brächte dies bei einem<br />

durchschnittlichen Bußgeld von 100 Mark insgesamt 200 Millionen Mark in den DDR-Staatssäckel.<br />

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