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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Marie Schlei starb im Alter von 63 Jahren am 21. Mai 1983 - eine "Sozialdemokratin aus<br />

dem Bilderbuch", wie die "Augsburger Allgemeine" ihren Bericht einfühlsam betitelte.<br />

Von ihren Genossen aus Bonn mochte sie vor ihrem Tode die meisten nicht mehr sehen.<br />

LEBENS-PROTOKOLL DER MARIE SCHLEI:<br />

"Als ich im Jahre 1969 - direkt nach der Operation in den Bundestag ging, hatte ich<br />

wieder Mut gefasst. Ein langer Weg der Ungewissheit lag hinter mir: Es schien jetzt so, <strong>als</strong> hätte ich<br />

den Krebs besiegt. Ich schöpfte Hoffnung, weil keine neuen Krebszellen entdeckt wurden. Es war<br />

wie der Beginn eines neuen Lebens.<br />

Und es machte mir Mut, dass meine Berliner Partei mir zutraute, der Herausforderung in<br />

Bonn gewachsen zu sein.<br />

Dieser Weg von Berlin nach Bonn war für mich ein einschneidender Bruch. Ich war<br />

dam<strong>als</strong> schon fünfzig Jahre alt. (In diesem Lebensabschnitt wird man nicht mehr für besonders<br />

lernfähig gehalten.) Zudem hatte ich mir - Arbeitertochter ohne Abitur - in Berlin etwas<br />

Ungewöhnliches aufgebaut. Ich hatte viel arbeiten müssen, bis ich Schulrätin wurde.<br />

Bei meinem Abschied von Berlin wusste ich, dass ich eine Lücke hinterließ: Ich hielt mich<br />

ja nicht für austauschbar. Für viele war ich ein Mensch, der aussprach, was sie vielleicht dachten,<br />

aber öffentlich zu sagen sich nicht trauten. Die Beziehungen, die zwischen Schulräten, Lehrern,<br />

Rektoren und Schulkindergärtnerinnen entstanden, waren wirklich freundschaftlich. Wir wollten<br />

vieles an der Schule verändern. Jahrelang beschäftigten wir uns mit der Umgestaltung der<br />

Lehrerausbildung oder der Anerkennung der Vorschule. Durch Überzeugungskraft schafften wir<br />

es, dass Kinder aus sogenannten einfachen Verhältnissen mehr wurden <strong>als</strong> angelernte Arbeiter, sich<br />

für einen Beruf qualifizierten. Wir erreichten, dass Mädchen auf weiter-führende Schulen gingen, so<br />

dass in den siebten Klassen Jungen und Mädchen im Verhältnis von 50:50 waren.<br />

Ich habe für meine Veränderungsvorschläge Lehrer, Eltern, Auszubildende gewonnen.<br />

Dabei lernte ich, was Reformen tatsächlich bedeuten: nämlich die Menschen dort abzuholen, wo<br />

sie stehe, das heißt, sich nicht <strong>als</strong> Heilsprediger aufzuspielen und sich nicht die Lebenskonzeption<br />

anderer anzumaßen.<br />

Schon unsere Sprache ist der Beweis für Verfremdung und Entfremdung. Mit unserer<br />

Schein-Fremdsprache versuchen wir, einfache Menschen, denen diese Sprache nicht geläufig ist, zu<br />

diskriminieren, auszugrenzen. Dadurch wird eine neue Klasse geschaffen. Wir unterhalten uns ja<br />

nicht mehr, wir verfremden -quasi eine neue Sozialtechnik - mit Satz-bau und Wortschatz. Dies<br />

führt zwangsläufig zu einer Entdemokratisierung unseres Miteinanders. Unsere Sprache verbindet<br />

uns immer weniger - mit ihr schaffen wir <strong>als</strong> Ausdruck unsere Identität neue Schranken. Auch ich<br />

ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Fremdwörter, die im Journalismus gang und gäbe sind,<br />

einfach übernehme.<br />

Als ich in der Nachkriegszeit nach Berlin gekommen war, lernte ich <strong>als</strong> Erstes wie man<br />

berlinert, weil ich mich mit den Arbeiterkindern unterhalten und ihnen etwas beibringen wollte.<br />

Vom Lernen habe ich immer viel gehalten. Meine Eltern hatte ich verloren, meinen Mann, meine<br />

Heimat, die Aussteuer, auch ich verdient hatte: Nur was ich gelernt hatte, das blieb mir und konnte<br />

mir nicht genommen werden.<br />

Für mich war es immer wichtig, mit dem anderen mitzudenken. Meine Mutter erzog mich<br />

im christlichen Sinne. Von meinem Vater lernte ich den gewerkschaftlichen Grundsatz, für den<br />

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