07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Konsumkultur, die soziale Rangskala der Karrieren auf Lebenszeit hat für sie keine Bedeutung.<br />

Aber die einstigen Handwerker wollen sich auch nicht vom "Profitgeier und Polier" in Fabriken<br />

oder auf dem Bau kaputtmachen lassen. Ob mit Flanellanzug im Büro oder mit dem Blaumann am<br />

Fließband - Maloche ist es allemal und die tötet Gefühl und Fantasie. Umgebung und Milieu zu<br />

erleben, Typen kennen zu lemen, unendlich viel Zeit für sich und andere zu haben, winzige Details<br />

wahrzunehmen und weiterzugeben - kurzum wetterfühlig zu sein und Sensibilität ausleben zu<br />

können, das alles ist ihnen erheblich wichtiger <strong>als</strong> der große Wurf strategischer Überlegungen à la<br />

Bonn oder eines Lohnzuwachses um 6.8 Prozent, den Funktionäre ausgemauschelt haben.<br />

Die Aussteiger in der Gneisenaustraße sehen im Bundesbürger einen "Wohlstands-<br />

Pinguin", der sich in seinem schwarz-weißen Einheitstrikot <strong>als</strong> Frontkämpfer versteht: für<br />

Wirtschafts-Wachstum und Weltmeisterschaft. "Das ist der Grund", wiederholt Harald, "warum es<br />

mir momentan in der Gesellschaft überhaupt nicht gefällt." Wenn Harald von Gesellschaft spricht,<br />

dann meint er nicht jene, die Soziologen oder Politologen analysieren und auseinanderpflücken. Er<br />

ist kein Theoretiker und will es auch gar nicht sein. In den Bücherregalen dieser Wohngemeinschaft<br />

steht kein Karl Marx (*1818 +1893) , Mao Zedong (*1893+1976) oder Herbert Marcuse<br />

(*1898+1979). Und selbst wenn sie dort stünden, käme keiner auf die Idee, seine Lebenssituation<br />

mit Zitaten dieser Theoretikern zu verallgemeinern. So ist ihre Wohngemeinschaft auch nicht ein<br />

Team junger Leute, die sich gemeinsam auf ihre Examen vorbereiten, zusammen Semesterarbeiten<br />

schreiben und sich über Grundsatzfragen oder Berufschancen die Köpfe heißreden. Dieser Typus<br />

von WG hat sich bei den Aussteigern überlebt. Ob die Leute studieren, einen akademischen<br />

Abschluss haben oder Hauptschüler sind, ist zweitrangig. Ihnen kommt es mehr auf den<br />

Konsensus im Zusammenleben an, sich und die Lebensphilosophie der anderen zu begreifen.<br />

Dabei urteilen Harald, Gerry, Johannes und Werner aus ihrer Erlebniswelt und ihren unmittelbaren<br />

Erfahrungen heraus. Sie sind nicht die abgeklärten Überflieger, die sämtliche aktuellen<br />

Vorkommnisse mit routinesicherem Blick in ihre selbstgezimmerten Denkschemata einordnen,<br />

seelenruhig in der Gruppe ihre Statements abgeben und allmählich zu Zyniker werden.<br />

Als Johannes noch von der Uni nach Hause kam, löste er oft ausufernde Debatten in der<br />

Gruppe aus. Mindestens zweimal in der Woche , wenn er seine Seminartage hatte, war er hinterher<br />

so hektisch und aufgekratzt, dass gleich alles aus ihm heraussprudelte. Für die anderen drei<br />

verkörperte Johannes den "politischen Durchblicker", der impulsiv und messerscharf ihre schon<br />

seit drei Jahren vollzogene Abgrenzung zu diesem Staat mit politischen Daten und Fakten<br />

untermauern konnte. Und Johannes brauchte diese Gespräche, um sich seiner zu vergewissern. Sie<br />

gaben ihm aber auch ein bisschen Genugtuung. Er verstand es nämlich, seine Betroffenheit auf die<br />

Gruppe zu übertragen.<br />

Der 18. Oktober 1977 hat sich im Gedächtnis der Vier fest eingeprägt. Nicht etwa, weil<br />

seit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer der Bundesrepublik der<br />

Atem stillstand oder bei den Polizeirazzíen ganze Häuserblocks gefilzt wurden. Daran hat sich die<br />

Berliner Szene seit der Geiselnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz (Entführung am 27. 2. 1975<br />

durch Terroristen der Gruppe 2. Juni; *1922+1987) gewöhnt. Erstm<strong>als</strong> wurde in der<br />

Wohngemeinschaft über Selbstmord geredet - eine Diskussion, die sich noch nachhaltig auswirken<br />

sollte. Johannes kam an diesem Abend von der Uni und sagte nur knapp: "Sie sind tot." - "Wer<br />

sind sie", fragte Werner. "Na wer schon", reagierte Johannes unwirsch. "Baader, Ensslin, Raspe."<br />

Johannes war derart aufgelöst und geschockt, <strong>als</strong> sei seine Mutter oder einer der engsten Freunde<br />

beim Verkehrsunfall unverhofft aus dem Leben gerissen worden. Er griff gleich zur Weinflasche,<br />

setzte sie ex an und hörte gar nicht wieder auf zu schlucken. Der knappe Satz "Sie sind tot" und der<br />

426

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!