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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Gerry eines Nachts H<strong>als</strong> über Kopf aus Donaueschingen getürmt war, weil ihnen alles "zu eng"<br />

erschien.<br />

Er sah nur den alten, heimischen Marktplatz, das Café Hengstler vor sich, erinnerte sich<br />

an die spannenden Wettfahrten zum Nachbarort Hüfingen und vor allem an die vielen Leute, die er<br />

kannte und die natürlich auch ihn kannten. "Also, wenn ich in Donaueschingen die Straße rauf lauf,<br />

so fünfhundert Meter lang, da sind mindestens zehn Bekannte, die mich anhalten und sich mit mir<br />

unterhalten", verklickerte Harald beim Abendessen die neue Erkenntnis. Er sagte es so<br />

eindringlich, <strong>als</strong> kämen seine Freunde aus einer anderen Stadt. Nun war er aber nicht mehr in<br />

Donaueschingen, sondern in seiner Wohngemeinschaft in Kreuzberg. In diesem "Dreckloch", wie<br />

er plötzlich sein neues Zuhause nannte, "zwischen Türken, Müll, Ratten, einem Scheißhaus für<br />

dreißig Mann, und da wollen wir alles anders machen", beschimpfte er Johannes und Werner, die<br />

sich seinen Ausbruch nicht erklären konnten. "Was ist hier eigentlich alternativ", schnauzte Harald<br />

herum. Er wartete die Reaktion erst gar nicht ab, sondern antwortete gleich selbst: "Wenn Scheiße<br />

für euch eine Alternative ist, dann bin ich eben ein Spießer."<br />

Abhauen wollte er noch am selben Abend. Doch er blieb. Über eine Woche verschanzte<br />

Harald sich in seinem Zimmer und redete mit niemanden. Johannes und Werner vermuteten<br />

schon, Harald werde doch über kurz oder lang aus der WG aussteigen und auf den Marktplatz nach<br />

Donaueschingen zurückkehren. Harald machte aber etwas anderes. Er malte einen großen<br />

Laubbaum in grünen und braunen Farben an seine weiß-graue Zimmerwand. Für ihn war's ein<br />

bisschen Schwarzwald in dem Häusermeer Kreuzberg. Deprimiert und ratlos hockte er in seiner<br />

Bude. Blinde Wut kam in ihm hoch, schlug dann wieder in neues Leiden um. Er konnte sich nicht<br />

erklären, was die Auslöser für seine tiefen Stimmungsschwankungen eigentlich waren. Er glaubte,<br />

nur er allein könne damit fertig werden. Doch je mehr er sich vergrub, desto größer wurden seine<br />

Gefühlssprünge, desto passiver und phlegmatischer reagierte er. Dabei gab es für ihn keinen<br />

ersichtlichen Grund.<br />

Schließlich hatte ihn keiner gezwungen, mit dem Elternhaus zu brechen und in eine<br />

Wohngemeinschaft nach Kreuzberg zu ziehen. Er konnte ja wieder heimgehen. Seine Eltern<br />

würden sich freuen, zumal es keinen Krach gegeben hatte. Sie haben ihn ohnehin nicht verstanden.<br />

Im letzten Brief, den er von seiner Mutter bekam, schrieb sie: "Was haben wir dir angetan, dass du<br />

uns so missachtest." Aber darum geht es ja nicht. Ursprünglich hoffte er, sich am ehesten in<br />

Kreuzberg zu verwirklichen. Hier muss er nicht im kleinen Horizont ständig funktionieren, sich<br />

anpassen und sich laufend reinreden lassen. Hier muss er nicht arbeiten, wenn er nicht will. Hier<br />

muss er nicht sein Fassaden-Lächeln aufsetzen, wenn er keine Lust dazu hat. Hier könnte er sich in<br />

alternativen Gruppen engagieren, Brote backen, Autos zusammenflicken, sanitäre Anlagen<br />

verlegen. Hier könnte er in Teestuben, in Pinten, in Buchläden mit vielen Leuten reden, denen es<br />

sicherlich nicht viel anders ergeht - und nicht nur so ein oberflächliches Geschwätz über Status und<br />

Stars, sondern echte Gespräche. Deshalb sind sie ja nach Kreuzberg gekommen, der Harald, der<br />

Gerry, der Johannes und der Werner.<br />

Aber anders <strong>als</strong> Gerry, der keinen seiner Freunde richtig an sein Innenleben<br />

herankommen ließ, versuchte Harald in Marathon-Diskussionen mit Johannes und Werner<br />

auszuloten, warum ihn seine Gefühle blockierten, warum er bisher matt und mutlos blieb, warum<br />

er so kontaktscheu war und sich noch nicht einmal auf die Straße traute. Da war nicht nur der<br />

gewohnte Marktplatz, zu dem Harald sich irgendwie zurücksehnte. Ganz unvermittelt sprach er<br />

von seinen Kindheitserlebnissen, die er <strong>als</strong> "wahnsinnig schön" empfand und die ihm "vom Gefühl<br />

her" heute fehlen. "Alle sieben Kinder schliefen in einem Raum und fast jeden Abend haben wir<br />

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