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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Liedform entwickelt haben. Da spielen Blueselemente ebenso hinein wie Rock- und<br />

Jazzinspirationen.<br />

Krisenzeiten sind seit jeher in Frankreich immer auch Zeiten des Chansons; ein wenig<br />

nostalgisch, ein wenig versonnen - aber immerfort vital. Das war in der Ära einer Edith Piaf<br />

(*1915+1963) und Juliette Gréco oder auch der Dichtersänger Georges Brassens (*1921+1981) ,<br />

Jacques Brel (*1929+1978) und Leo Ferré (*1916+1993) nicht anders. Denn zwischen den<br />

politischen Nachrichten und Chansons gibt es für den Franzosen eigentlich noch keinen großen<br />

Unterschied - noch nicht. "Zu allen Zeiten", urteilte der Impresario Jacques Canetti, "war das<br />

Chanson ein soziales und politisches Phänomen ersten Ranges. Es ist der treueste Spiegel der<br />

Volksstimmung."<br />

Die Menschen strömen in die Konzerte der Popchanson-Lady, weil da eine "von uns" auf<br />

der Bühne steht, weil die Kaas anders ist <strong>als</strong> die geklonten Glamourfiguren amerikanischer<br />

Tiefkühl-Erotik á la Madonna. Intensität mit Identität sind gefragter denn je in Frankreichs<br />

wirtschaftlich verwirrenden Krisenjahren, in denen täglich an die tausend Menschen in die<br />

Arbeitslosigkeit entlassen werden. Parallelen tun sich auf, werden sogleich arglos verklärt, zum<br />

Klischee verschlissen. Rückblende. Paris 1935. Edith Piaf ist gerade zwanzig Jahre alt. Meist mit<br />

einer Rose zwischen den Lippen, flaniert sie auf den Pariser Straßen. Nur eine kleine, verwinkelte<br />

Dachkammer gewährt ihr Unterschlupf. Mit Verve und seltener, zäher Lebenslust intoniert sie, nur<br />

von einem Banjo begleitet, auf den Boulevards ihre Chansons von "Les Amants", "Les toits de<br />

Paris" wie auch den "Legionär".<br />

Zu jener Zeit träumten Touristen im romantisch untermalten Saint-Germain-des-Prés<br />

noch von besinnlichen Stunden der Melancholie à la francaise. Und Edith singt, singt und singt -<br />

sie singt ums Überleben. Ihren ersten Vertrag bekam die Piaf von einem bordellähnlichen Cabaret<br />

in Pigalle. Natürlich gesellten sich die Männer des Nachts zu ihr; von P'tit Louis bis zum<br />

Muskelprotz aus der Unterwelt. Sie gab ihnen ihren Körper - nicht aber ihre Seele. Edith Piaf<br />

lachte darüber, bemerkte nur: "Das Leben wird immer nur aus Betten, bezahlten, auch unbezahlten<br />

bestehen. Ich muss aber singen, sonst verrecke ich." - Selbst dann noch, <strong>als</strong> Nazi-Deutschland Paris<br />

besetzte. - Lang ist es her.<br />

Wenn Patricia Kaas im eng anliegenden schwarzen Leder, in Seidenstrümpfen und<br />

Stiefelletten den Blues singt, dann tanzt sie ihn. Atemlose Stille begleitet sie, die Band schweigt, sie<br />

scheint mit dem Lied von "Lili Marleen" allein zu sein; ein bisschen lasziv, ein wenig kindlich,<br />

sorglos und treuherzig allemal. Und wenn sie Edith Piafs "La vie en rose" ins Mikrofon flüstert,<br />

sind die langen Jahre verflogen, die vergangen sind zwischen gestern und heute. Nonstop singt<br />

Patrica Kaas da fast zwei Stunden lang aus ganzen Leibeskräften. Sie zittert, bebt, schreit,<br />

kokettiert, animiert, ziert sich, mimt Lolita und den Vamp, die Klagende, den Clown, die<br />

Verletzende. Und mit ihrem Chanson "Je te dis vous" liefert sie sich in ihrer intimen<br />

Zerbrechlichkeit aus, will Abend für Abend die Erfahrung auf sich vereinen, wie viel Tiefe und wie<br />

viel Privatsphäre das Publikum von Mademoiselle Patricia zu vertragen noch bereit ist -<br />

Seelenstriptease genannt.<br />

Auch Deutschland, dieses große, für die Franzosen immer etwas unheimliche<br />

Nachbarland, ist an solchen Kaas-Abenden der französischen Provinz immer wenigstens zeitweise<br />

präsent. Nicht etwa deshalb, weil Patricia im lothringischen Stiring-Wendel fünfzig Meter von der<br />

deutschen Grenze aufwuchs und ihre Mutter eine Deutsche war. Es sind die Ereignisse in<br />

Deutschland: Die Brandschatzung an Asylanten-Herbergen und die Gewalt gegen ausländische<br />

Mitbürger. Es sind diese Nachrichten, die ihrem schon vergessen geglaubten Lied über dieses Land<br />

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