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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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gab, krempelte Jeanne <strong>als</strong> Vize-Bürgermeisterin von Oyonnax wieder die Ärmel hoch, um die<br />

Knappheit zu lindern - vom Widerstand im Gebirge zu den Trümmern in den Städten. "Richtig zur<br />

Besinnung", ergänzt ihre Kollegin Pépette, "sind wir erst im hohen Alter gekommen. Erst jetzt<br />

fragen wir uns immer ängstlicher, welch ein Glück wir doch an unserer Seite hatten, so heil davon<br />

gekommen zu sein."<br />

"Im Widerstand", äußert Andrée, "sind wir andere Frauen geworden. Und dieses<br />

Anderssein haben wir uns bis heute bewahrt." Mit einem dezenten Fingerzeig deutet Madame<br />

Andrée auf das Nachbarhaus. Dort lebt noch eine Familie, deren Eltern beherzt in der<br />

Kollaboration ihr Auskommen suchten. Es sind Wunden, die in Frankreich nicht vernarben<br />

wollen; wenigstens in dieser Generation nicht mehr. Folglich ist es für die Frauen ein "Ding der<br />

Unmöglichkeit", dass etwa Kinder oder Enkel in eine Kollaborationsfamilie einheiraten. Auch<br />

käme niemand auf diese absonderliche Idee, weil sie inzwischen alle hinlänglich wissen, "wie wir<br />

gelitten haben, welche Schmerzen es zu ertragen galt". - Vergangenheitsbewältigung auf<br />

Französisch<br />

Nach dem Kriege wurden 127.000 Kollaborationsverfahren eingeleitet, 80.000<br />

Gerichtsurteile gesprochen; darunter 6.800 Todesstrafen verhängt, von denen 1.500 vollstreckt<br />

worden sind.<br />

Es waren entwürdigende Frauen-Bilder, die um die Welt gingen, die sich vor allem ins<br />

deutsche Gedächtnis eingruben: kahl geschorene Französinnen, die sich mit der Gestapo oder auch<br />

Soldaten der Wehrmacht eingelassen hatten. Die alte Dame weint. Ihr Vater wurde von Franzosen<br />

verraten, ist erschossen worden. Die Tochter Andrée blieb allein zurück mit ihren zwei kleinen<br />

Brüdern. Für beide hatte sie zu sorgen und ihre Freizeit hieß - Widerstand.<br />

Verständlich, dass Résistance-Gruppen zu einer Art Familien-Ersatz gediehen; eben zu<br />

einer eingeschworenen Solidargemeinschaft. Es blieb den eigenen Kindern vorbehalten, Tabus<br />

anzutasten. Nämlich jene sorgsam gehüteten Vorbehalte im Umgang mit den Deutschen. Als<br />

Jeannes erst 16jährige Nichte Pierrette mit einem Schüleraustausch Deutschland besuchen wollte,<br />

war Jeannes spontane Reaktion: "Du bist wohl verrückt geworden. Solange ich lebe, fährst du nie<br />

in dieses Land, merke dir das!" - Das Mädchen antwortete: "Aber du selber warst es, die mir immer<br />

sagte, wir müssen zwischen dem normalen Deutschen und den Gräueltaten der Nazis<br />

unterscheiden. Das macht unsere Lehrerin im Geschichtsunterricht schließlich auch." In diesem<br />

Moment erschrak Jeanne darüber, wie sie unbedacht alte Feindbilder auf die junge Generation<br />

übertrug, unvermittelt weitergab. Und sie antwortete knapp: "Das stimmt schon. Vieles hat sich<br />

geändert gehe hin." Zwischenzeitlich ist Nichte Pierrette mit einem Deutschen aus Frankfurt<br />

verheiratet. Wenn Jeanne in Widerstandskreisen über Pierrette und ihren Mann Erich spricht, liegt<br />

ihr häufig ein Hinweis auf der Zunge - <strong>als</strong> Rechtfertigung sozusagen: "Er war nicht beim Militär<br />

und ist nämlich ein netter Schoko-Bäcker."<br />

Triste November-Tage auf Frankreichs Friedhöfen, auch Soldaten-Friedhöfen. Gedenk-<br />

Momente. Fanfarenstöße vielerorts. Jedes Jahr zum 11. November -gesetzlicher Feiertag des<br />

Waffenstillstandes im Ersten Weltkrieg - besuchen die betagten Widerstandsfrauen wie Jeanne<br />

noch die Grabstätten ihrer im Kriege verlorenen Großväter, Väter und Söhne. Im vergangenen<br />

Jahr fuhren sie erstm<strong>als</strong> auch nach Dagneux - zur deutschen Begräbnisstätte, die östlich von Lyon<br />

liegt. Hier fanden 20.000 Gefallene aus beiden Weltkriegen ihre letzte Ruhe. Die Frauen vom<br />

Widerstand aus Oyonnax gedachten der Toten beider Länder.<br />

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