07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

LETTLAND: UNTER ROTEN ZAREN VON EINST -<br />

MILLIONEN HÄFTLINGE IN TAUSENDEN VON LAGERN<br />

VERBANNT<br />

stern, Hamburg – 22. Juni 1977 6<br />

Die Szene hätte sich an der Klagemauer in Jerusalem abspielen können: Juden, die im<br />

Dritten Reich von Nazis verfolgt wurden, singen alte hebräische Lieder und tanzen im Halbkreis.<br />

Ein Rabbi, um den sich eine Menschentraube gebildet hat, fordert an Ort und Stelle ein Mahnmal,<br />

das an die Gräueltaten der Nazis erinnern soll.<br />

Doch diese Juden, die sich hier versammelt haben, leben nicht in Jerusalem, ihre<br />

Zwangsheimat ist die lettische Hauptstadt Riga, und in Riga ist eine Demonstration nationaler<br />

Minderheiten verboten. Polizisten sprengen die friedliche Veranstaltung. Offiziere des sowjetischen<br />

Geheimdienstes KGB fotografieren die Teilnehmer. Einer von ihnen ist der 55jährige Jacob<br />

Raskin. Als der Ingenieur versucht, Polizisten von der Verhaftung des Rabbi abzuhalten, ruft ihm<br />

ein Mann zu: "Das werden Sie noch bereuen!"<br />

Am nächsten Tag trifft Raskin zufällig einen langjährigen Freund in der Kaleju-Straße.<br />

Der bittet ihn, da er in Eile sei, doch ein paar Bücher, die er bei sich habe, in die Staatsbibliothek zu<br />

bringen. Kaum hat Raskin die Büchertasche in der Hand, treten zwei Männer auf ihn zu. Sie weisen<br />

sich <strong>als</strong> Offiziere des "Komitees für Staatssicherheit" aus. In der Tasche, die durchsucht wird,<br />

befinden sich 3.000 US-Dollar - in der Sowjetunion verbotene Devisen. Das Urteil für den arglosen<br />

Raskin: drei Jahre Arbeitslager ohne Bewährung.<br />

Das Arbeitslager OZ 78/7, in dem Raskin interniert wird, liegt zwölf Kilometer östlich<br />

von Riga. Es ist eines von rund 1.000 KZs, die sich die Sowjetführung leistet, um ihre Häftlinge<br />

"umzuerziehen" - so heißt das offiziell. Im Lager OZ 78/7 trifft Raskin auf den 44jährigen Olafs<br />

Bruvers. Der Taxifahrer hatte es gewagt, mit seinen Fahrgästen über Glaubensfreiheit und<br />

Menschenrechte zu diskutieren. Das Urteil gegen ihn: sechs Monate ohne Bewährung.<br />

Raskin und Bruvers leben heute im Westen. Ihren Freund Wassilij Ediger ließen sie<br />

zurück; auf dem Gefangenen-Friedhof von Riga. Das Einzige, das heute an ihn er- innert, ist eine<br />

quadratische Grabtafel aus Holz, auf der seine Häftlingsnummer 1214/13 eingeritzt worden ist. Er<br />

starb im Herbst 1975 an "Herzversagen". So jedenfalls teilte es die Lagerleitung der Familie mit.<br />

Tatsächlich litt Ediger an chronischer Unterernährung. Die Steineschlepperei in der<br />

Baubrigade hatte er nicht mehr durchgehalten. Ausreichendes Essen gab es nicht, ein Arzt war<br />

nicht zur Stelle, <strong>als</strong> der Ausgemergelte zusammenbrach. Wenige Stunden später war er tot.<br />

Drei Schicksale von 1,2 Millionen. So viele Häftlinge sind in der Sowjetunion unter<br />

unwürdigen Bedingungen eingekerkert. Nach Berichten der amerikanischen Regierung , die mit den<br />

Recherchen der Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international übereinstimmen, sind davon<br />

mehr <strong>als</strong> 10.000 politische Häftlinge. Ihr einziges "Verbrechen": Sie glauben und denken anders, <strong>als</strong><br />

es die Partei befiehlt.<br />

6 Mit Erich Follath<br />

261

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!