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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Lehr- und Lernsystemen“ sprechen. Derlei Anmaßungen finden ihren Höhepunkt im Angebot<br />

eines weiteren großen Elektrokonzerns, der die erst eben auf den Markt präsentierte Bildplatte <strong>als</strong><br />

„Bildungs-Platte“ bezeichnet, da „das Videosystem Bildplatte idealer Träger von Lernprogrammen<br />

aller Art“ sei.<br />

Wenn man vom audiovisuellen Bereich einmal absieht, so hatte die didacta 72 recht wenig<br />

zu bieten. Das meiste, von einigen Bücher-Neuerscheinungen abgesehen, konnte auch schon 1970<br />

in Basel besichtigt werden. Die am Sonderschultag der didacta anwesenden Pädagogen bekamen<br />

zwar einen Vortrag geboten, erhielten aber nur wenig neue Anregungen, die sich auf ihre<br />

Unterrichtspraxis beziehen. Es zeigt sich wieder einmal mehr, dass der ohnehin arg vernachlässigte<br />

Sonderschul-Bereich für die Industrie nicht attraktiv ist. Vielleicht auch deshalb, weil in der<br />

Zielgruppe Lernbehinderung weniger Geld zu verdienen ist. Würde man nach den<br />

Ausstellungsständen gehen, könnte man spontan den Eindruck gewinnen, <strong>als</strong> sei die<br />

Sonderschulpädagogik mit der Vorschulerziehung identisch; Randerscheinungen auf der Messe<br />

allemal. Dasselbe gilt auch für den Bereich Erwachsenbildung; ein Schatten-Dasein, das<br />

seinesgleichen sucht.<br />

Während Industrie und Verlage mit ihren audiovisuellen Programmen in höheren<br />

Regionen abheben, schweben und die Vorteile ihrer Konzeptionen den Messebesuchern zu<br />

erklären versuchen, haben etwa die Junglehrer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auf<br />

dem didacta-Gelände die Aktion Kleine Klasse gestartet. Durch Flugblätter weisen die Pädagogen<br />

auf einen Erlass des Jahres 1872 hin, in dem gefordert wurde: „Jede Klasse ihren Klassenlehrer;<br />

jede Klasse ihren Klassenraum: Verbesserung der Ausstattung mit zeitgemäßen Unterrichts-<br />

Material und keine Anfänger-Klasse mit mehr <strong>als</strong> 20 Schülern!“ Diese Forderung erschienen 100<br />

Jahre später noch ebenso utopisch, wie folgende Zahlen verdeutlichen: Im Jahr 1968/1958 kamen<br />

auf einen Grundschullehrer in der Bundesrepublik 36 Kinder; 1969/1970 waren es „nur“ 33<br />

Kinder. In derselben Zeit verbesserte Frankreich seine Klassenfrequenz von 29 auf 25 Schüler.<br />

Anstelle didacta 72 wäre die Bezeichnung utopia 72 angebracht gewesen. Seither läuft<br />

jährlich die größte Fachmesse für Bildungswirtschaft mit einem enormen Public-Relations-<br />

Aufwand ab. Nebelkerzen. Tatsächlich offenbart es sich <strong>als</strong> ein Festival von Verlags-Marketing-<br />

Expertem mit ihren Kultus-Bürokraten im Schlepptau. Jahr für Jahr, Messetag für Messetag gilt es<br />

im betäubenden Wortschwall der Innovation etwas zu würdigen, zu feiern; mal soll ein<br />

„Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit“ erreicht werden; mal muss der Lehrer für seine „engagierte<br />

und gute Arbeit“ belobigt werden; mal fordert Niedersachsens Kultusministerin Elisabeth Heister-<br />

Neumann (CDU): „Wir brauchen eine höhere Bildungs-Qualität.“ Auf der didacta herrscht seit<br />

ihres Bestehens stets Feiertagsstimmung mit theatralisch inszenierten Kalendersprüchen, die „den<br />

Eltern Mut machen“ soll, weil „vieles auf einem guten Weg ist“ (Bundesbildungs-Ministerin<br />

Annette Schavan im Jahre 2009).<br />

Nur am miserablen Zustand im deutschen Bildungswesen, Lehrermangel, baufällige<br />

Schulgebäuden, zu hohe Klassenfrequenzen, unzureichende Ganztagsschulen, mangelnde<br />

Unterrichts-Ausstattungen, fehlendes Lern- und Lehrmaterial, Lücken in der vorschulischen<br />

Betreuung – daran vermochte in den vergangenen Jahrzehnten niemand etwas auszurichten. Aber<br />

immerhin in einer Disziplin ist Deutschland Rekordhalter: Kein Land der Welt leistet sich 16<br />

eigenverantwortliche Kultusminister mit eigener Bürokratie, eigenen Schulplänen, eigenen<br />

Anordnungen und Erlassen, eigenen Schulferien schon immer.<br />

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