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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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ganz leise gelebte Wirklichkeit - notgedrungener weise versteht sich." Meist, wenn Ehemann<br />

Robert von Seillonnaz aus mit seinem Trecker zu den Demonstrationen ausrückt, ist es seine Frau,<br />

die daheim den Hof in Gang hält.<br />

Und Bauer Robert ist diesen Tagen fast ständig unterwegs. Jacqueline findet es richtig,<br />

"dass mein Robert in vorderster Front mit marschiert. Nur wenn wieder tonnenweise unsere doch<br />

kostbaren Lebensmittel auf der Mülldeponie oder Straßen weggekippt werden, habe ich<br />

Beklemmungen, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie fühle ich mich so, <strong>als</strong> würden<br />

wir uns selber aufgeben", sagt Jacqueline.<br />

Das Anwesen der Familie Laurencin umfasst 53 Hektar Land und zwei Hektar Weinberge.<br />

Dazu kommen zwanzig Milchkühe und 15 Kälber. Jeden Morgen und jeden Abend treibt Madame<br />

Jacqueline "Cherie," "Vicky", "Lilly", "Florence" oder auch "Josiane" über die Dorf-Hauptstraße<br />

Richtung Wiesen, abends Richtung Gehöft. Anders <strong>als</strong> bei den reichen Bauern im Tal, die über<br />

großflächige Weiden verfügen, gibt es im Alpen-Vorland nur kleine, vereinzelte Grasflächen. Also<br />

lässt Bäuerin Jacqueline ihre Kühe sich rund ums hügelige Dorf sattfressen -gemolken wird im<br />

Stall.<br />

Beinahe täglich hockt Jacqueline mehrere Stunden vor Formularen, muss sie Rechnungen<br />

schreiben, Zuschüsse beantragen oder beim Finanzamt um Zahlungsaufschub für die nächste<br />

Steuerrate nachsuchen.<br />

Einen Steinwurf von der Bäuerin entfernt wohnt der Bürgermeister Aimé Trischetti mit<br />

seiner Frau Henriette. Beide sind 68 Jahre alt, seit vier Jahrzehnten verheiratet und haben drei<br />

Söhne aufgezogen. Auch sie sind Bauern - Weinbauern.<br />

In ihrer großräumigen Wohnküche tickt eine alte Wanduhr. - Behaglichkeit. Sie deutet<br />

vielleicht an, dass die Familie Trischetti schon einmal bessere Tage in Seillonnaz erlebt hat. Die<br />

Gesichtszüge der Madame Henriette verraten kaum etwas von dem, womit sie quasi ein halbes<br />

Jahrhundert ihr Tagwerk bestritt. An den steilen Hängen im Rhône-Tal liegen ihre Weinberge. Und<br />

Wein-Arbeit - das ist Frauen-Arbeit. Hier hat sie ihre Weinstöcke gepflegt, gebunden und<br />

beschnitten. Kaum etwas lässt sich hier maschinell verrichten. In den Sommermonaten ist<br />

Henriette schon früh morgens um 6 Uhr bis etwa 10 Uhr in den Weinbergen. Dann wird es zu<br />

heiß. Und schließlich muss sie auch noch das Mittagessen vorbereiten. Zur Zeit der Weinlese hat<br />

Madame Henriette für 30 befreundete Mithelfer zu kochen.<br />

Aber irgendwie liegt ein bisschen Wehmut im Gesicht der Madame Henriette. -<br />

Umbruchzeiten für Frankreichs Bäuerinnen. "Natürlich", bemerkt sie, "der technische Fortschritt,<br />

die Maschinen erleichtern vor allem uns Frauen das Leben. Früher haben wir doch fast so viele<br />

Muskeln wie die Männer gehabt. Nur Geld konnten wir nie genügend verdienen. Es blieb immer<br />

Mangelware. Wenn wir mal etwas haben, müssen wir zum Beispiel einen Trecker kaufen, weil der<br />

alte nur noch Schrott ist."<br />

Verständlich, dass Madame Henriette sorgenvoll in die Zukunft blickt. Verständlich auch,<br />

dass sie lieber von den Erfolgserlebnissen früherer Jahre erzählt. Als im Mai 1968 Frankreichs<br />

Studenten in Paris die Revolution probten, fand in Seillonnaz ein ganz anderer Aufbruch statt - das<br />

Wasser war da. Jeder Hof, jeder Haushalt wurde an die Kanalisation angeschlossen. Vorher<br />

mussten die Frauen noch das Wasser vom Dorfbrunnen in Eimern nach Hause schleppen, und die<br />

Wäsche wurde im Bach gewaschen.<br />

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