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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Dabei glaubt Rüdiger, 37 Jahre alt, gerade einer anderen "beschissenen Welt" entkommen<br />

zu sein, nämlich der eines Brauerei-Facharbeiters in der Fabrik. Über sechzehn Jahre hatte er dort<br />

gearbeitet, zum Schloss durfte er sogar Schichtführer nennen. "Ich habe die Schnauze restlos voll<br />

gehabt in dieser Mühle, ich war nur noch deprimiert, weil mir alles so aussichtslos erschien."<br />

Justament zu dieser Zeit suchte das Bezirksamt Berlin-Spandau, Abteilung Jugend und Gesundheit,<br />

Erzieher, die im neu erbauten Jugendfreizeitheim "Gelse" eine Aufgabe sehen. Ein Arbeitskollege<br />

brachte Rüdiger mit einem gewissen Alfons Brawand zusammen, der sich nicht daran störte, dass<br />

Rüdiger keine Ausbildung zum Sozialarbeiter durchlaufen hatte. "Das macht nichts", soll Brawand<br />

ganz loyal gesagt haben, "die holste berufsbegleitend nach." Rüdiger war merklich unsicher auf dem<br />

Amt und sagte artig: "Herr Brawand". Doch der duzte ihn gleich wie einen alten Kumpel. Ihm<br />

käme es insbesondere darauf an, Praktiker, wenn auch ohne Ausbildung, auf die neu geschaffenen<br />

Planstellen zu hieven. Von arbeitslosen Akademikern wolle man weniger etwas wissen, "Die sind<br />

links verdorben, hetzen nur die Jugendlichen auf und machen den Behörden unnötige Arbeit", hieß<br />

es lapidar. Dagegen passte ein Typ wie Rüdiger offenbar sehr gut ins selbst gezimmerte<br />

Stellenprofil.<br />

Rüdiger konnte nicht im entferntesten ahnen, warum das Amt ausgerechnet auf<br />

"Praktiker" baute. Er hatte nicht die leistete Vorstellung von dem, was ihn erwarten würde. Seine<br />

anfängliche Unsicherheit überspielte er stets damit, dass er sich mit einer "berufsbegleitenden<br />

Ausbildung" beruhigte. Auch verengte Rüdiger, vielleicht ungewollt, seinen Blick für gewissen<br />

Begleiterscheinungen, die ihn wahrscheinlich schon dam<strong>als</strong> nachdenklicher hätten stimmen<br />

müssen. Doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seiner Ablösung von der Fabrik,<br />

vom eingefahrenen Schichtdienst und nun dem plötzlichen Neubeginn <strong>als</strong> Sozialpädagoge<br />

sozusagen, dem Eltern ihre Kinder anvertrauten, abschoben, wenn auch nur stundenweise.<br />

Denn so ein Jugendfreizeitheim eröffnet weitaus mehr Möglichkeiten, sowohl für die<br />

Jugendlichen <strong>als</strong> auch für ihre Betreuer, dachte Rüdiger, <strong>als</strong> er zum ersten Mal vor der Eröffnung<br />

staunend durch die brandneue "Gelse" schlenderte. Er merkte offenbar nicht, dass er die<br />

Einrichtung eher nach seiner eigenen Hobbylage begutachtete <strong>als</strong> nach der der Kinder, für die sie<br />

eigentlich mal gedacht war. Über 2,5 Millionen Mark hatte der Staat in dieses Prestigeobjekt<br />

investiert.<br />

Über 50.000 Mark kostete allein das Tonstudio, 40.000 Mark verschlang die Großküche,<br />

skandinavische Sessel - vergleichbar einem Hotel-Foyer - verschönerten die Lese-und Spielräume.<br />

Eine großflächige Bühne für Beatbands und Laienspielgruppen war vorhanden, es konnte<br />

Basketball, Volleyball und Tischtennis gespielt werden, Kicker und Billard gab's wie<br />

selbstverständlich. Theater-und Ballettgruppen, Sportvereine und Briefmarkensammler - sie alle<br />

sollten hier unterkommen. Es fehlte an nichts, alles schien bis ins Detail maßstabsgetreu<br />

durchgeplant und vorprogrammiert. Die zuständigen Ämter meinten, ganze Arbeit geleistet zu<br />

haben.<br />

Die Spandauer Honoratioren aus Partei und Ämtern, Baufirmen mit ihren Angestellten,<br />

Architekten und notgedrungen auch die neuen Erzieher wollten ihr Jugendfreizeitheim im<br />

exklusiven Kreis in gebührender Form einweihen: quasi <strong>als</strong> Übergabe-Veranstaltung mit Bierfass,<br />

Sekt, Orangensaft und den obligaten kleinen Häppchen. Und natürlich hatte Brawand zuvor mit<br />

seinen Leuten kräftig die Hofberichterstattung in Funk und Lokalpresse angeleiert. So gab es unter<br />

den Jugendlichen im Falkenhagener Feld nur ein Thema: "Amtsärsche saufen und fressen sich im<br />

neuen Jugendfreizeitheim voll." Während Brawand vor dem erlauchten Halbrund das Bauwerk <strong>als</strong><br />

ein Projekt "für die Welt von übermorgen" pries, luchsten die Jugendlichen draußen vor der Tür<br />

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