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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Geldadel, für den beispielsweise Lessings "Minna von Barnhelm" erst salonfähig wurde, nachdem<br />

eine französische Übersetzung vorlag.<br />

Hunderttausende schlecht bezahlte Arbeiter fristeten unbeachtet ihr Hinterhof-Dasein.<br />

Ob aus den Provinzen Schlesien, Pommern oder Ostpreußen - mit Beginn der Industrialisierung im<br />

19. Jahrhundert überfluteten ausgemergelte, halb verhungerte Tagelöhner, Handwerker und<br />

Kleinbauern die Stadt. Die Matzkes, Lehmanns , Schulzes und Maletzkes -die Kleine-Leute Namen<br />

- malochten bei Siemens, Borsig und AEG. Berlin wuchs zur größten Industriestadt des<br />

Kontinents; auf den Knochen einer Armen-Armee, für die das Leben schwer, das Sterben so<br />

einfach war.<br />

An die 170.000 Einwohner zählte die Stadt um 1800. Eine halbe Million waren es schon<br />

1871, dem Jahr der Reichsgründung, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten über vier Millionen<br />

Menschen in Berlin. - Erinnerungen an verflossene Jahrzehnte verklären meist den Blick, Realitäten<br />

verschieben sich, Nostalgien dominieren. Dokumente hingegen sind unbestechlich. Berlin im Jahre<br />

1846: "10.000 prostituierte Frauenzimmer, 12.000 Verbrecher, 12.000 latitiernde Personen (das<br />

heißt Personen, die ihren Aufenthalt vor der Polizei verbergen), 18.000 Dienstmädchen (von denen<br />

etwa 5.000 der geheimen Prostitution nachgehen), 20.000 Weber (die bei der Arbeit sämtlich ihr<br />

Auskommen nicht finden). 6.000 arme Kranke, 6.000 Almosenempfänger, 3.000 bis 4.000 Bettler,<br />

2.000 Bewohner der Zuchthäuser und Strafanstalten. 1.000 Bewohner des Arbeitshauses, 700<br />

Bewohner der Stadtvogtei (dem Kriminalgefängnis), 2.000 uneheliche Kinder, 2.000 Pflegekinder,<br />

1.500 Waisenkinder; das ist nahe der vierte Teil der Einwohner der ganzen Hauptstadt."<br />

Die Mietskasernen im Billigbau, ob in Kreuzberg, Wedding, Tiergarten oder Neukölln -<br />

sie waren allesamt ein Machwerk profitsüchtiger Hausbesitzer. Korrupte Beamte und skrupellose<br />

Spekulanten Repräsentanten dieser Stadt - bereicherten sich auf Kosten der Arbeiter. Sie kassierten<br />

Wuchermieten und trieben die Bodenpreise in einsame Höhe. Hier ein Tipp, dort ein Geldschein.<br />

Erst dann wurde Bauland ausgewiesen. Um die Jahrhundertwende lagen die Berliner Bodenpreise<br />

zehnmal höher <strong>als</strong> in London. - Da versteht es sich geradezu von selbst, dass für Schulen und<br />

Krankenhäuser das Bauland zu teuer war. Wo sollten diese öffentlichen Einrichtungen auch<br />

entstehen, wenn nicht in den Hinterhöfen.<br />

Über vier Personen lebten durchschnittlich in einem Raum, 13 Prozent aller Arbeiter<br />

hausten in Kellern, die sie sich nachbarschaftlich mit Ratten und Mäusen teilten. Licht war Luxus<br />

und kam allenfalls aus der Leitung. Die Räume waren nass und kalt. Geheizt wurde übers ganze<br />

Jahr. Das Klo lag im Zwischenstock - ein Scheißhaus für die ganze Kompanie. Oder wie Rainer<br />

Joedecke in 'Geo' schrieb: "Zum Baden, wenn's mal sein muss, gehst du in die städtische<br />

Badeanstalt. Deine Kinder spielen in der Hofgruft unter der Wäsche, zwischen Mülltonnen. Rote<br />

Zettel kleben im Hausflur: Du sollst deine Kinder und Hunde vom Rattengift fernhalten. Du bist<br />

müde, von der Schicht, die Kinder plärren, der Kerl im ersten Stock prügelt wieder mal seine Olle.<br />

Gehst du halt in die Kneipe. Schnaps ist billig und hilft gegen alles ... ... 24 Stunden am Tag hast du<br />

Zeit, dein Elend zu ersäufen. Wenn's nicht hilft, kannst du ja immer noch dene Olle verdreschen."<br />

In der Tat: "Zille sein Milljöh". Wie mühsam es für die Arbeiter war, auch nur die<br />

kleinsten Verbesserungen durchzusetzen, belegt ein Schreiben des Herrn Dr. med. Stryck vom 5.<br />

März 1887 seines Zeichens Eigentümer des Hauses Adalbertstraße 74, Er beschwerte sich beim<br />

Polizeipräsidium, das ihm auferlegt hatte, noch zwei weitere Klos zu installieren. Dr. Stryck im<br />

Originalton: "Richtig ist, dass die Mieter von zehn Wohnungen auf je ein Klosett angewiesen sind.<br />

Dazu kommt, dass sämtliche männliche Personen ihre Arbeitsstelle außer dem Haus haben, mithin<br />

von 5 bis 5 1/2 früh bis 6 1/2 bis 7 Uhr abends nicht zu Hause sind. Diese benutzen <strong>als</strong>o in den<br />

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